Und Mose fordert den Herrn auf:
„Lass mich doch deine Herrlichkeit sehen!“.
„Du kannst es nicht ertragen, mein Angesicht zu sehen, denn kein Mensch kann mich sehen und am Leben bleiben.“ (Kapitel 33, Verse 18 bis 21)1. Diese Antwort ist wohl eindeutig.
Einige Autoren des 20. Jahrhunderts wie Sigmund Freud2 oder Immanuel Velikovsky3 deuten darin die Herkunft des altisraelitischen Gottes Jahwe als Vulkangott (siehe auch die Erzählung vom brennenden Dornbusch) oder als eine Übertragung von Aton, dem ägyptischen Gott der Sonnenscheibe.
Diese spekulativen Thesen konnten bisher nicht durch archäologische Beweise belegt werden und gelten als randständig. Eine Prima-facies-Plausibilität kann dieser Interpretation jedoch zugesprochen werden: Ein zu langes Sehen in die Sonne oder in einen Vulkankrater mit glühendem Magma lässt uns erblinden.
Im Buch Exodus folgen nun Textpassagen, die global populär wurden:
„Darauf sprach der Herr zu Mose: Haue dir zwei steinerne Tafeln […] und steige am Morgen auf den Berg Sinai […]“ (34:1-2) Mose blieb dort vierzig Tage und vierzig Nächte, aß weder Brot noch trank er Wasser.
„Und er schrieb auf die Tafeln die Worte des Bundes, die zehn Worte [Gesetze]“(34:28)
Diese alttestamentarische Erzählung stellt in seiner Gesamtheit eine Metapher zur gegenwärtigen textgenerierenden KI dar. Wir fragen –> erhalten Antworten –> sehen aber nicht, wie sie entstanden sind.
Vielleicht würde es uns an einigen Stellen schaudern, wenn auch nicht gleich erblinden lassen. KI ist für uns Sterbliche eine black box. Die Antworten wirken plausibel, als seien sie von einem wissenden Menschen verfasst. Woraufhin wir uns freuen und die Antworten ähnlich schätzen, wie es im Buch Exodus im folgenden Kapitel heißt:
Als Mose vom Berg Sinai herabstieg, war sein Gesicht strahlend geworden und alle fürchteten sich.
„Danach aber traten alle Söhne Israel heran, und er gebot ihnen alles, was der HERR auf dem Berg Sinai geredet hatte." (34:32-33).
Auch uns gegenwärtigen Töchtern und Söhnen ergeht es so. KI-Antworten wirken logisch aufgebaut und weisen einen beträchtlichen Grad an Plausibilität auf. Nebenbei gefällt uns, dass KI uns Suchenden viel Arbeit abgenommen hat. Daher nehmen wir gerne die KI-Texte für bare Münze.
Jedoch ist da was geschehen. Unbemerkt haben wir den Empfangsort gewechselt: Von der realen oder virtuellen universitären Bibliotheksumgebung in einen Kirchenraum.
Von mühsam Suchenden sind wir naiv alles schluckende Gläubige einer modernen Gottheit geworden. Hatten wir doch gerade von der KI-Kanzel die Wahrheit gehört.
Um es weniger zugespitzt zu sagen: ChatGPT ist als großes Sprachmodell ein Gesellschaftsmodell und kein Wissenschaftsmodell. KI-Bots bieten Informationen, die auf Unmengen von Daten zugreifen – gespeist aus unzähligen unterschiedlichen, zum großen Teil inkompatiblen Quellen.
Wir wissen nicht, wie und warum die KI gerade diese Informationen ausgespuckt hat.
Aber zu verstehen, wie Ergebnisse entstanden sind, ist das zentrale Fundament in den Wissenschaften. Die angewendeten Methoden der Datengenerierung und Datenanalyse sind das Um und Auf interpretierbarer Ergebnisse.
Daraus werden Schlussfolgerungen gezogen. Erst dann kann bis zu einem gewissen Grad den Aussagen vertraut werden. Nicht Glaube, sondern Kritik ist ein wesentliches Element von Wissenschaften.
Kurz,
das wissenschaftliche Gütekriterium Transparenz ist nicht einmal ansatzweise erfüllt. Den Anwendern präsentieren die KI-Chat-Bots nur eine Eingabe- und eine Ausgabemaske. Dazwischen gibt es ........... nichts.
Hier kann man sich symbolisch eine black box vorstellen. Man weiß nicht, in welchem Rahmen gesucht wird, was die Algorithmen der Datenaufbereitung tun und welche Auswahlkriterien schlagend werden.
Einen Quantensprung könnte uns die weitere Entwicklung von Artificial Intelligence zu einer XAI, der eXplainable Artificial Intelligence, bieten. XAI, die erklärende künstliche Intelligenz, hat den Anspruch, verstehbare Ergebnisse zu liefern2. Wodurch die gegenwärtig unsichtbare black box zu einer white box, also einer durchsichtigen gläsernen, wird.
Anders als Mose könnten wir sehen, am Leben bleiben und überdies unser Augenlicht behalten.
7. Jänner 2024
1 Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel und Handkonkordanz. 6. Auflage 2017, Witten: SCM
2 Freud, Sigmund (1939/2022). Der Mann Moses und die monotheistische Religion. Amsterdam: Allert de Lange
3 Velikovsky, Immanuel (1953/2005). Erde in Aufruhr. Julia White
4 David Gunning, Mark Stefik, Jaesik Choi, Timothy Miller, Simone Stumpf, Guang-Zhong Yang (2019). XAI — Explainable artificial intelligence. Explainability is essential for users to effectively understand, trust, and manage powerful artificial intelligence applications. Science Robotics. 4, eaay7120
Nächtlicher Kanal in Venedig als Sinnbild für Licht in der Dunkelheit :)
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