Erzeugt ChatGPT Erkenntnisse?
Oder chattet sie nur?
Ist sie eine Wahrheitsmaschine oder eine schnöde Schnattergans?
Betrachten wir sie vorerst als Geschichtenmaschine, als eine hochmoderne Version eines orientalischen Geschichtenerzählers. Die KI-Antworten auf unsere Fragen wirken in der Regel überzeugend. Die genKI ist geschmeidig und anpassungsfähig, ihre Sätze kennen kaum Ecken und Kanten, das Provozierende fehlt.
Der Abschluss jeder Geschichte (die zusammenfassende Antwort auf das Prompt) relativiert und nimmt vieles zurück, was vorher wie von Zauberhand Wort für Wort am Schirm erschienen ist. Offeriert wird letztendlich eine heile Welt mit blauem Himmel.
Ordnen wir die genKI im Bereich der Wissenschaften ein. Und zwar anhand ihrer Algorithmen, die Einsichten produzieren sollen, wo es Wissenslücken des Anfragenden gibt. So gilt Folgendes:
Wissenschaft ist eine Form der Erkenntnis, die auf erfahr- und beobachtbaren Tatsachen beruht. Nicht auf Wahrheiten und auch nicht direkt aus den Tatsachen sofort ableitbar1. Dass wir aufgrund der Erddrehung in europäischen Breitengraden mit rund 200 Meter pro Sekunden von West nach Ost rasen, merken wir nicht. Wir rasen trotzdem. Wir Menschen brauchten lange, um diese Tatsache zu erkennen. Erkenntnisprozesse laufen oft gegen die Intuition ab.
Die wissenschaftlichen Erkenntnisformen beruhen auf Analyse- und Syntheseprozessen, die drei Richtungen aufweisen: eine deduktive, eine induktive und eine abduktive.
Die ersten zwei Formen (die deduktive und die induktive) wurden von zahlreichen Wissenschafts-Logikern der letzten Jahrhunderte von oben nach unten und von unten nach oben durchgekaut. Daher sei hier nur kurz geschrieben1:
- Deduktive Schlussfolgerungen sind simpel, zumeist formal und langweilig. Die Schlüsse vom Allgemeinen, von generellen Regeln auf das Einzelne, erzählen nichts Neues. Sie machen Bekanntes nur sichtbarer.
- Die umgekehrten Schlüsse, die induktiven, sind schon spannender. Sie versuchen aufgrund einer größeren Anzahl von verschiedenen Beobachtungen auf eine neue allgemeine Regel – quasi eine „Postmisse“, die zu einer Prämisse werden könnte – zu schließen. Die Gefahr, voreilige Schlüsse zu ziehen, ist daher immer gegeben.
Spannend wird erst die dritte Art des Erkenntnisprozesses. Dies ist die Abduktion, die „Entführung“, wenn man abduktiv aus dem Lateinischen wortwörtlich übersetzt2. Ihr Inhalt besteht – häufig nach dem Auftreten überraschender Beobachtungen – aus einer Wegführung aus dem Bisherigen. Abduktion ist also eine Entführung aus dem gewohnten Denken.
Abduktion stellt nicht nur neue Regeln auf wie das Induktive, sondern nutzt (meist indirekt) die jeweiligen Lebens- und Weltkontexte der Forschenden und Suchenden, um eine nicht nur wahrscheinliche, sondern eine "best"-mögliche Erklärung zu finden.
In der "Entführung aus dem Bisherigen" ist nach dem US-amerikanischen Wissenschaftsphilosophen Charles Sanders Peirce das Geniale im Wissenschaftsprozess zu finden. Er nannte es die einzige logische Operation, die zu einer neuen Idee führt: „Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation which introduces any new idea [...]“3.
Abduktion hat jede und jeder von uns erfahren. Es ist die mögliche Lösung, welche einem nach tagelangem ergebnislosen Brüten plötzlich in der Dusche oder kurz vor dem Einschlafen einfällt. Sozusagen wie Schuppen von den Augen fallen. Eine neue Welt tut sich auf. Aus Saulus wurde Paulus: „Und sogleich fiel es wie Schuppen von seinen Augen, und er wurde sehend.“4
Abduktion kann nicht durch Fingerschnippen herbeigerufen werden. Obwohl es eine unglaublich praxistaugliche Strategie ist, Scheitern zu minimieren. Abduktion ergibt sich aus einer intuitiven Einsicht auf dem Fundament eines (schwer fassbaren) Lebens- und Weltkontextes.
Abduktion steht im Gegensatz zu den üblichen Logik-Normen: „[...] new conceptions arise in a manner which puts the rules of logic at defiance“5 oder „[...] this could only arise in a mind entirely unpractised in the logic of relation“5. Erst in der Folge von oft nicht sichtbaren Prozessen kommt es zu rationalem Formulieren der "best"-möglichen Erklärung. Die natürlich noch immer Thesencharakter hat und zu überprüfen ist.
Wir altmodischen TV-Seher praktizieren allabendlich Abduktion. In jedem Krimi geht es darum, auf verschlungenen, aber kreativen und vernetzten Wegen den Mörder/die Mörderin ausfindig zu machen. Das ist eine Entführung aus den Anfangs- und Mittelsequenzen des Films in das meist überraschende Ende.
Ein anderes Beispiel wäre das Lösen von Rätseln. Kinder lieben das nicht umsonst. Die Chance, hinter die Bühne der augenscheinlichen Geschehnisse zu lugen und damit die umgebende Welt zu erkunden, ist groß.
Auf diesen Prozesse des Ergründens basiert das menschliche Empfinden, Denken und Handeln. Intelligenz, egal ob natürliche, künstliche, emotionale oder soziale, lässt sich als Begriff herleiten aus einem Zusammenführen von Wahrnehmen, Zusammenlegen und (übergreifender) Einsicht6. Genauso wird Abduktion beschrieben.
Wie arbeitet die Künstliche Intelligenz aus wissenschaftsteoretischer Sicht?
Die generativen Large Language Models (LLMs) sind Konstrukte auf Basis von Wahrscheinlichkeiten. Sie bedienen sich deduktiver Methoden, ohne die Logik dahinter durchzuziehen: Sie gleichen probabilistischen, ausgefransten Wolken. Generative KI (genLLMs) verwendet Algorithmen, die von Wort zu Wort arbeiten.
Das jeweils nächste Wort wird aufgrund von Wahrscheinlichkeiten gewählt. Die genKI erzeugt übersichtliche Ergebnisse. Diese Vorgehensweise kann als eine vage (probabilistische) Form der Deduktion angesehen werden. Die genKI dient der Klärung durch statistische Ableitung.
KI-Ergebnisse weisen aufgrund dieser probabilistischen Vorgehensweise sogar induktive Momente auf. Das Zutreffen dieser „induktiven“ Ergebnisse ist jedoch höchst zweifelhaft, siehe nur das KI-Phänomen der Halluzination. Die Ergebnisse der genKI gleichen somit mehr oder weniger zerrissenen Wolken am Himmel.
Abduktion kann die generative KI nicht. Ihr fehlt der Lebens- und Weltkontext, kreativ neue und "best"-mögliche Erklärungen zu liefern. Abduktion könnte sich als Heiliger Gral der KI-Forschung erweisen: Jahrhundertelang gesucht, aber nie gefunden.
20. April 2024
PS: Der Begriff "Postmisse", eine "Misse nach den Erkenntnisprozessen" wird nirgends zu finden sein. Ein Beispiel für Abduktion ist das sicher nicht. :)
1 Chalmers, A. (2007). Wege der Wissenschaft. Einführung in die Wissenschaftstheorie. Sechste, verbesserte Auflage. Berlin: Springer, S. 5 ff.
2 Langenscheidt (2008). Großes Schulwörterbuch Lateinisch-Deutsch. Berlin: Langenscheidt.
3 Hartshorne, C. / Weiss, Pl (1974). Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Volume V: Pragmatism and Pragmaticism, und Volume VI: Scientific Metaphysics. Cambridge: Harvard University Press. S. 105.
4 Elberfelder Studienbibel mit Sprachschlüssel und Handkonkordanz (2017). Apostelgeschichte. Kapitel 9 (Bekehrung des Saulus) Vers 18. 6. Auflage. Witten: SCM.
5 Hartshorne, C. / Weiss, P. (1974). Collected Papers of Charles Sanders Peirce. Volume V: Pragmatism and Pragmaticism, und Volume VI: Scientific Metaphysics. Cambridge: Harvard University Press. S. 118 und 119.
6 Kluge (2011). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 25., durchgesehene und erweiterte Auflage. Berlin: Walter de Gruyter. S. 447.