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Der neosokratische Dialog

 

 

 

 

 

Fußballeuropameisterschaft 2024: Ein Spieler erobert den Ball am eigenen Sechzehner, läuft auf der rechten Seite mit zunehmender Geschwindigkeit in die gegnerische Hälfte, passt quer zur anderen Seite, läuft weiter in Richtung Tor. Er wird von der gegnerischen Verteidigung nicht mehr beachtet, erhält den Ball zurück, schlägt einen Haken, einen zweiten, schießt – Tor!

Diese Szene erinnert mich an die platonischen Dialoge von Sokrates. Harmlos anfangend, stellt Sokrates zunehmend unbequeme Fragen zu bisher als wahr geglaubten Annahmen seines Gegenübers. Er schließt mit einem fulminanten Argumentationsfinale, dem anvisierten Tor in seinem Spiel, in welchem sein Gesprächspartner am Ende dumm dasteht.

 

Als ich das erste Mal diese Dialoge las, vielleicht mit Ende zwanzig, war ich begeistert von dieser Methode, Illusionen zu durchschauen und für andere als solche sichtbar zu machen. Der Entschluss stand fest: Ich muss Philosophie studieren. Leider stieß ich in den nächsten Monaten auf einige Arbeiten der analytischen Philosophie, die damals modern war. Und mir drehte sich der Magen um.

Diese linguistischen Formalanalysen lasen sich wie eine Arbeit aus der Mathematik voller Symbole und Formeln. Der österreichische Mathematiker und Logiker Kurt Gödel hätte das sicher verstanden. Ich nicht.

 

Erst zwei Jahrzehnte später startete ich doch ein Philosophiestudium. Nun zwang mich der Wiener Studienplan zu einer Einführung in die Philosophie anhand eines Fichte-Textes. In einer Gegenthese zu Kant bietet Johann “Gottlieb” Fichte Argumente für den Glauben an einen Gott, wie ihn das Christentum lehrt.

Vom formalanalytischen Regen war ich in die paratheologische Traufe geraten. Diesmal allerdings hielt ich durch.

 

Der G'scheite und der Dumme

So wie ihn Platon schildert, war Sokrates das Manipulative nicht fremd. Es ist von Anfang an klar, wer „triumphieren“ wird. Es ist von Anfang an klar, wer nur über ein Schweinwissen verfügt, daher schonungslos bloßgestellt und der Dumme sein wird. Der sogenannte Dia-Log präsentiert sich nicht als eine zweiseitige, sondern als eine einseitige Sache.

Heiligt das Ziel, falsche Annahmen aufzudecken, den abwertenden Zweck? Ist nicht in einer aufgeklärten Gesellschaft ein faires Verhalten im Rahmen eines gemeinsamen echten Dialoges langfristig erfolgversprechender? Wir wollen – ähnlich wie Sokrates es für seine Gesprächspartner wünscht – selber denken lernen.

 

Venedig, Studierendenviertel / Campo Margherita: Diskussionen an einem Winterabend

 

Was hat das mit der KI zu tun?

Vieles! Jede Anfrage an die KI, jeder abgesendete Prompt, führt zu einer Antwort, die als erste Runde eines Dialogs angesehen werden kann. Wenn wir die KI-Antwort unbesehen übernehmen, also nicht checken oder nachfragen, stehen wir im Grunde als die Dummen da. Die KI hat die Rolle des weisen Sokrates übernommen und wir die Rolle des einfältig Fragenden.

Wir übersehen die Schwächen der KI, halten konstruierte Wahrscheinlichkeitsinhalte für die Realität. Die KI hat uns dann manipuliert, wenn wir annehmen, dass sie klüger sei als wir. Das antike Psychospiel zwischen zwei Menschen läuft nun zwischen Maschine und Mensch ab.

 

Das Manipulative an den sokratischen Dialogen ist seit langem bekannt. Bildungswissenschaftler (Leonard Nelson und Gustav Heckmann1) haben im 20. Jahrhundert eine faire Variante solcher Dialoge entwickelt. Es nennt sich das neosokratische Gespräch. Es geht um eine, von Vorannahmen wenig beeinflusste gemeinsame Suche in einer Gruppe nach übereinstimmenden Antworten. 

Im Laufe der letzten Jahrzehnte wurden unterschiedliche Modelle hinsichtlich Ziele und Vorgehen für das neosokratische Gespräch vorgeschlagen. Übereinstimmende Merkmale dieser einzelnen Modelle sind: 

  • Sprich klar, kurz und in verständlicher Sprache.

  • Nimm die Äußerungen des anderen ernst.

  • Sprich Fragen und Zweifel an, aber zerstöre nicht das Gespräch.

 

Wie können diese Ideen im KI-Dialog umgesetzt werden?

Vier wichtige Punkte helfen in Anlehnung an das neosokratische Gesprächskonzept hierbei: 

  1. Klarheit: Im Prompt gezielte und präzise Fragen und Anweisungen geben.

  2. Exploration: In einem anschließenden Dialog verschiedene Perspektiven erkunden. Die KI soll Vor- und Nachteile von Sichtweisen aufzeigen, Argumente für und wider bestimmte Thesen liefern.

  3. Kritisches Hinterfragen: Weiterführende Erklärungen und konkrete Beispiele von der KI erfragen.

  4. Begriffsklärung: Definitionen von verwendeten zentralen Begriffen anfordern und zueinander ins Verhältnis im Rahmen des relevanten Kontextes bringen.

 

Die umgesetzten Prinzipien des neosokratischen Gesprächs fördern eine strukturierte und tiefer schürfende Interaktion mit der KI. Niemand verliert, auch die KI nicht, denn sie weiß von diesem Psychospielchen nichts. Der Gewinner werden Sie allein sein.

 24. Juni 2024

 

1 Heckmann, G. (2018). Das sokratische Gespräch. Mit einem aktualisierten Vorwort von Dieter Krohn. Münster: LIT.