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Geisteswissenschaften

 

 

 

 

 

Le lettere – so heißen die Geisteswissenschaften (neben le scienze umanistiche) im Italienischen1. Also Buchstaben, Briefe oder eben geschriebene und gedruckte Buchstaben in Texten. Einmal geschrieben oder gedruckt, bleiben sie festgehalten bis in alle Ewigkeit. Oder das Papier zerfällt. Darüber kann man stunden-, tage- oder jahrzehntelang nachdenken und dementsprechend Inhalte virtuell im Kopf hin- und herbewegen, zergliedern, auflösen und neu zusammensetzen.

Das impliziert der rund 200 Jahre alte deutsche Begriff "Geistes"-Wisssenschaften für Kunst, Musik, Religion, Philosophie, Sprache etc. Ein Begriff mit einem hohen idealistischen Anspruchsniveau. Der Geist (im Deutschen männlich, was sonst) wird als nichtfassbares Wesen verstanden. Völlig losgelöst von der Materie.

Der Geist fungiert als weltfremdes, wahrscheinlich sogar widernatürliches Gedankenkonstrukt. Denn die Wissenschaften konnten bisher keine Belege für geistige Phänomene ohne korrelative körperliche Grundlagen erbringen.

Ganz anders der italienische Begriff. Le lettere erdet und verankert das Tun lebendiger Wesen aus Fleisch und Blut mittels schwarzer Tinte auf weißem Papier. Und nichts sonst. Hier sieht man die Vorteile, simpel erscheinende Einsichten aufgrund einer Fremdsprache angeboten zu erhalten. Man kann somit eine schräge Weltsicht – wie sie im trennenden Dualismus von Geist und Materie nach Descartes vorhanden ist – korrigieren.

Was hat das mit generativer Text-KI zu tun?

Ganz einfach: Die statische Form der Schrift wird dynamisch. ChatGPT, Bing und Co. werden zu Dialogpartnern. Sie antworten auf Fragen und werden detaillierter oder schwammiger. Je nach Nachfrage. 

Aus le lettere werden i dialoghi, aus fixierten Texten werden Zwiegespräche. Der statische und eingefrorene Inhalt wird in einen systemischen Prozess des Miteinandersprechens umgewandelt. Mit allen Vor- und Nachteilen, wie das in Dialogen zwischen ungleichen Partnern der Fall ist. 

 

Der Partner (die KI) weiß aufgrund unfassbar vieler gespeicherter Inhalte mehr. KI versagt aber, wenn der Mensch dieses Wissen in seinem konkreten Lebenskontext kreativ anwenden will. Überdies enthält die KI in den elektronischen Speichern und in den selektierenden Algorithmen viel versteckte Ideologie. Diese beruht derzeit vor allem auf westlichen, individualistischen US-amerikanischen Konzepten. Daer sind kaum merkbare Manipulation und Beeinflussung nicht selten. 

Ist daher die textgenerative KI ein Partner, der mich gelegentlich über den Tisch zieht?

 

11. April 2024 

 

PS: Ich habe die Erstfassung dieses Textes von ChatGPT 4 prüfen lassen. 

Die Antwort: „Dein Text ist inhaltlich faszinierend und bietet viele interessante Gedanken. Es gibt einige Punkte, bei denen die Grammatik und Stilistik verbessert werden könnten.“ 

Das habe ich getan. Worauf die KI sprach: „Insgesamt ist die überarbeitete Version eine deutliche Verbesserung im Hinblick auf Stil, Klarheit und kritische Reflexion und macht den Text für Leser sowohl zugänglicher als auch ansprechender.“ Vielen Dank! Hoffentlich sieht das meine Lektorin auch so...

1 Zanichelli (2009/2015). Il nuovo dizionario di Tedesco. Grosswörterbuch. Deutsch-Italienisch, Italienisch-Deutsch. Zweite Auflage. Bologna: Pons. S. 429 und S. 1943