Zu den Kommentaren bitte den Beitragstitel angeben.
Die Angabe eines Vornamens reicht! :-)
Das KI-Interaktionsverzeichnis
Vorschlag für einen neuen Standard
Wie im vorigen Blog begründet, steht der Forschungsprozess im Fokus: Wichtig ist der Weg, nicht nur das Endprodukt. Das verweist auf eine Hauptaufgabe von Hochschulen: Sie stoßen Lernprozesse an und fördern sie.
Jedoch fehlen einheitliche Regelungen, wie mit KI umzugehen ist. Denn die KI ermöglicht nicht nur ein Überspringen von Lernprozessen, die KI legt die bequemen Abkürzungen sogar nahe. In diesem Blog wird daher ein Vorschlag für einen neuen Standard betreffend wissenschaftlicher Arbeiten präsentiert: ein KI-Interaktionsverzeichnis, das durch ein Promptprotokoll ergänzt wird.
Der Zweck eines solchen KI-Interaktionsverzeichnisses ist simpel: Es belegt den kommunikativen Austausch zwischen Forscher:in und KI. Das KI-Interaktionsverzeichnis hat die gleiche Wertigkeit wie das Literaturverzeichnis und sollte in der Arbeit unmittelbar davor oder danach stehen.
Aufgebaut kann es aussehen wie folgt1:
Die drei grau hinterlegten Spalten der Tabelle stellen den Kern der KI-Anwendung dar:
1. Art der Verwendung aufgrund des Zwecks und Ziels der Nutzung.
2. Die Prompts zeigen das Geschick des Autors im KI-Umgang. Umfangreiche Prompts gehören in eine Anlage.
3. Entscheidend ist die Dokumentation der KI-Kontrollen und die (vermutlich) darauf aufbauende Fortführung der Arbeit.
Ein KI-Interaktionsverzeichnis sichert die Nachvollziehbarkeit und belegt regelkonformes Vorgehen – für die Leser:innen und den Autor selbst. Dies hat auch rechtliche Aspekte: Die Absicherung ist notwendig, wenn die KI selbst plagiiert hat. Da die KI zumeist ihre Quellen verbirgt, liegt hier ein rechtlich nicht geklärtes Risiko2 vor, das wohl auch für den Hochschulbereich gilt.
Mehraufwand
Aus Sicht des Betreuers: Das KI-Interaktionsverzeichnis führt zwar zu einem Mehraufwand durch den Betreuer, doch nur so kann er oder sie die geforderte Eigenständigkeit der Autorin beurteilen. Ohne solche zusätzlichen Instrumente könnten die Hochschulen gleich auf schriftliche Arbeiten verzichten. Ein Übergang zu entsprechend ausführlichen mündlichen Prüfungen wäre mit einem noch höheren Mehraufwand verbunden.
Aus Sicht der Autorin: Das Verzeichnis sollte von Anfang an geführt werden. Es belegt samt den gespeicherten Zwischenversionen der Arbeit die Eigenständigkeit. Zentral für die Akzeptanz dieses Mehraufwandes und die Praktikabilität eines solchen Verzeichnisses wird die Granularität der Darstellung der einzelnen Prozessschritte sein. Eine grobe Granularität ist einer übertriebenen Feingranularität vorzuziehen. Fatal für diese Methode wäre es, „jeden Tastenanschlag“ am Laptop protokollieren zu wollen.
16. November 2024
PS: Das Promptprotokoll zeigt den Text der Anordnungen durch dieAutorin, steht praktischerweise im Anhang und ist durch Links vom KI-Interaktionsverzeichnis bequem erreichbar.
1 Angelehnt an den Diskussionbeitrag der Uni Graz und erweitert (15.11.2024). Options for labeling, documenting and reflecting on the use of AI. https://lehren-und-lernen-mit-ki.uni-graz.at/en/options-for-ai-labeling/options-for-ai-labeling/
2 Karl, Harald (11.11.2024). Wer haftet, wenn die KI ein Plagiat generiert? Die Presse S. 4
KI und Selbständigkeit (2)
Ein zentrales Ziel höherer Bildung besteht darin, selbst etwas zu erkunden, zu erforschen und zu erkennen. Und damit nicht von anderen abhängig zu sein. Das Universitätsgesetz (UG) schreibt für Masterarbeiten und Dissertationen als einen der zentralen Punkte Selbständigkeit vor:
„Diplom- und Masterarbeiten sind die wissenschaftlichen Arbeiten in den Diplom- und Masterstudien, die dem Nachweis der Befähigung dienen, wissenschaftliche Themen selbstständig sowie inhaltlich und methodisch vertretbar1 zu bearbeiten.“ (§ 51, Abs 2 Z 8 UG)
Noch verschärft sind diese Vorgaben in Sachen Selbständigkeit für Dissertationen: „Dissertationen sind die wissenschaftlichen Arbeiten, die anders als die Diplom- und Masterarbeiten dem Nachweis der Befähigung zur selbstständigen Bewältigung wissenschaftlicher Fragestellungen1 dienen.“ (§ 51, Abs 2 Z 13 UG)
Was heißt selbständig?
Graben wir in der Vergangenheit. Klar, nicht immer benennen etymologische Bedeutungen auch heute den Kern einer Sache, aber aufschlussreich sind sie oft. Und diesmal, denke ich, treffen vergangene Assoziationen ins Schwarze: selbselbo im Althochdeutschen oder sselboisselboi beispielsweise im Venetischen2.
Wir sehen hier Verdoppelungen. Um das Gewicht der Behauptung zu unterstreichen, es wirklich selbst gewesen zu sein, wird das Wort selbst zweimal gesprochen oder geschrieben. Einfach und genial, wie unsere Vorfahren zur Sache kamen. :)
Wie ist das mit der KI? Wird sie in Forschungsarbeiten verwendet, kämen gemäß diesem Verdoppelungsprinzip semantische Begriffe wie KI-selbst oder selbst-KI in Frage. Den Gedankengang zu Ende gedacht, käme eine Bearbeitungskette wie selbst-KI-selbst in Frage.
Ein selbst-selbst gemachtes Salsa zum Frühstück. ;)
So kabarettistisch das klingen mag, aber solche Wortungetüme zeigen eine gangbare Richtung auf. Herkömmliche Zitierkonzepte basieren auf einzelnen Textstellen, die zitiert werden. Diese Konzepte funktionieren nach dem End-of-pipe-Prinzip: Nachdem eine entsprechende Literaturstelle als passend für das zu bearbeitende Thema erkannt wurde, wird sie zitiert. Aus.
KI aber ist so nicht in den Griff zu kriegen. Erste Zitierregeln, die nach wie vor auf diesem End-of-pipe-Prinzip basieren und die kurz nach dem Start von ChatGPT im November 2022 als Möglichkeiten propagiert wurden, funktionieren weder theoretisch noch praktisch3.
Prozess statt End-of-pipe in der Forschung
Der entscheidende Schritt ist, den gesamten Prozess und nicht nur das Endergebnis zu betrachten. Und dies entsprechend zu protokollieren, wenigstens in Form zentraler Prozessschritte. Schon bisher wurden schriftliche Arbeiten am Ende zumeist idealisiert dargestellt, als wäre von Anfang an ein Meister am Werk gewesen.
Wir kommen also weg von einer gekünstelten Präsentation. Der Weg wird frei zu einer realitätsnahen Darstellung des Forschungsprozesses.
Die unternommenen Schritte gestalten direkt das Ergebnis. Das war schon bisher wissenschafstheoretische Kernerkenntnis. Das zentrale Wissenschaftsgütekriterium der intersubjektiven Nachvollziehbarkeit in den Soft Sciences und objektive Überprüfung in den Hard Sciences wird so eine unerwartete Vitalisierung erfahren.
5. November 2024
PS: Vorschläge zur prozessorientierten KI-Zitierweise folgen.
1 Von mir hervorgehoben.
2 Kluge (2011). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. (25., durchgesehene und erweiterte Auflage). Berlin: De Gruyter. S. 841.
3 Zwei grundsätzliche Möglichkeiten zum Nachweis und zur Dokumentation von KI-Verwendung werden angeboten: Den eingesetzten Chatbot als Autor für eine Textstelle zu nennen oder die Textstelle als KI-editiert zu markieren siehe meinen Blog-Beitrag vom 5. April 2024.
KI und Selbständigkeit (1)
„ChatGPT ist ein klassisches Plagiatsverfahren“1. Autsch, diese Aussage von Konrad Paul Liessmann in einem Podiumsgespräch über die Bedeutung der KI schmerzt. Liessmann ist in Österreich und in der Schweiz bekannt als sprachgewaltiger Kommentator zu allen in der Öffentlichkeit im Augenblick diskutierten Themen. Falls der emeritierte Wiener Philosoph die Gedankenwelt der Uni Wien nach wie vor widerspiegelt, wird verständlich, warum das Phänomen auf universitärem Boden ignoriert wird.
Plagiatsverfahren zur Entlarvung von KI-Arbeiten einzusetzen, ist wirkungslos. Das gleicht dem Absperren des Wasserhahns in der Küche, während außerhalb des Hauses ein Hochwasser alles niederwalzt.
Plagiat
Um mit dem Begriff Plagiat zu beginnen: Ein oft zitierter deutschsprachiger Autor zur Definition von Plagiat ist Gerhard Fröhlich: „Unter Plagiate wird die unbefugte Übernahme fremden Geistesguts, der ‚Diebstahl‘ geistigen Eigentums verstanden.“ (2006, S. 81)2.
Dieser Plagiatsbegriff funktioniert nicht hinsichtlich der KI. Zwar haben viele genKI-Apps selbst viel gestohlen, dieses Diebesgut haben sie allerdings zerschnippselt und neu zusammengesetzt. Rechtlich entstehen komplexe Probleme: Wem gehört dieses Neue – den ursprünglich tausenden Autoren gemeinsam? Also hätte jeder Autor an jedem Wort einen ideellen Anteil? Gehört das Gestohlene und neu Zusammengesetzte den KI-Unternehmen? Den Anwendern aufgrund persönlich erstellter Prompt-Techniken? Der ganzen Menschheit?
Ghostwriter
Wie diese wenigen Sätze zur KI samt den folgenden Skizzen zum Rechtssystem zeigen, ist ein Chatbot kein klassisches Plagiatproduzent. Vielmehr gleicht er einem Ghostwriter. Ein ‚Geisterschreiber‘ ist jemand, der im Namen und im Auftrag einer anderen Person eine Arbeit schreibt. Umso besser er bezahlt wird, desto mehr Zeit wird er aufwenden und desto verlässlicher sind dann die Ergebnisse.
Genauso behandelt man auch einen Chatbot: Je mehr Rechenzeit, desto besser der Output. Aber ein Geisterschreiber aus Fleisch und Blut war bisher durch Plagiatssoftware nicht zu erkennen. Alles ist gleichgeblieben, nur der Geist tut, was Geister so tun: Er hat sich eine andere Gestalt gegeben, eine elektronische.
Rechtssystem
Es ist offensichtlich, dass das bisherige Plagiatsverfahren, ob eine schriftliche Arbeit auf Eigenleistungen des Autors beruht, nicht geeignet ist, KI zu erkennen. Selbst spezialisierte KI-Erkennungsprogramme können bloß Wahrscheinlichkeiten angeben. Die innovative Technik unterläuft sogar das geltende Rechtssystem. Begriffe wie Eigentum, Urheber, Diebstahl, Betrug etc. greifen ins Leere. Es erhebt sich nun die Frage: Gibt es ein Eigentumsrecht auf Fakes?
Das bisherige Urheberrecht beruht bei indirekten Zitaten auf Zusammenfassungen im Einzelfall (!) samt richtiger Angabe der Quelle. „Im grossen Stil aber fremde Inhalte zusammenzufassen und ein Geschäftsmodell zu entwerfen, das auf dem Zitieren von Quellen basiere – das gehe über die ursprüngliche Funktion des Rechts zum Zitieren hinaus.“ (Hunziker 21.10.2024)3. Fazit: Das Rechtssystem müsste grundlegend neu gestaltet werden.
Liessmann, der in der Vergangenheit nicht selten den Eindruck vermittelte, ein inoffizielles Sprachrohr für die philosophische und bildungswissenschaftliche Fakultät der Wiener Universität zu sein, gibt oft konstruktive und kritische Einsichten zu Bildung und Gesellschaft. Hier aber irrt er. Er setzt einen rational kühlen Schlusspunkt in diesem Podiumsgespräch, der auf eine verbreitete universitäre Mentalität des Weitermachens wie bisher schließen lässt: Ängste verspüre er nicht1. Conclusio: Sich mit schummelnden Studierenden auseinanderzusetzen, ist also öd.
22. Oktober 2024
PS: Wie mit KI ernsthaft umzugehen ist, wird in der nächsten und übernächsten Folge beschrieben.
PPS: Dieser Beitrag wurde mittels ChatGPT4o auf Argumentationsstruktur überprüft.
1 DiePresse (Im Gespräch, 19.10.2024). Wer wem gehorcht. https://www.diepresse.com/18981811/wer-wem-gehorcht.
2 Fröhlich, G. (2006). Plagiate und unethische Autorenschaften. Information Wissenschaft & Praxis 57, 81-89.
3 Hunziker, M. (21.10.2024). Das Wettrennen um die intelligente Internetsuche läuft. Der CEO des amerikanischen KI-Unternehmens You.com erklärt, was die Konkurrenz falsch macht. Neue Zürcher Zeitung 21. Oktober 2024.
Den Kopf in den Sand stecken
Erstaunlich, was Übersichtsarbeiten aufzeigen: Fachjournale für höhere Bildung interessieren sich nicht für technologiegestütztes Lernen. So das Fazit eines Reviews, das Ende August 2024 publiziert wurde1.
Situation
Nur wenige Veröffentlichungen zu genKI und Lernen sind in Fachjournalen für höhere Bildung zu finden. Sind doch effektives und effizientes Lernen und die Verwendung entsprechender Methoden hierzu zentrale Themen dieser Journale. Gegenwärtig wird nur selten untersucht, wie genKI und Lerntheorien zueinander passen. Ausreichend erforschte Lerntheorien wie Experimentelles Lernen, Aktives Lernen, Selbstreguliertes Lernen oder Reflexives Lernen wären eine ideale Perspektive, Auswirkungen der genKI (in Form der Chatbots) zu untersuchen.
Anders sieht die Situation bei Technologiejournalen aus. Hier sind zahlreiche Studien über Chatbots zu finden. Allerdings sind diese – schon rein vom Ansatz her – pragmatisch und technologisch orientiert. Ein Einordnen der Chatbot-Wirkungen auf sozialpsychologische und soziale Vorgänge ist hier nicht zu erwarten.
Die genKI wird nicht die Praxis an den Hochschulen in Zukunft verändern, nein, sie tut es bereits jetzt. Sie verändert die Bildungspraxis grundlegend, wie es einst die Industrialisierung für die Wirtschaft tat. Doch die erste Garnitur, der forschende und lehrende universitäre Oberbau, scheint die genKI zu ignorieren.
Mögliche Gründe
Was könnten Gründe sein? Mangelnde Intelligenz der Hochschulverantwortlichen der Großuniversitäten kaum. Eher, dass der etablierte Habitus der Professoren undWissensträger:innen eine kritische Auseinandersetzung mit neuen Technologien verhindert. Denn traditionelle akademische Strukturen sind festgefahren.
Roboter, mit denen man chatten kann, also Chatbots, sind die neue Bedrohung für die Wissensträger:innen. Chatbots bieten einen innovativen und gleichzeitig herkömmlichen Zugang zum Wissen: Chatbots reagieren AUF die natürliche Sprache und generieren einen Output IN der natürlichen Sprache. Lehrende werden nicht benötigt. Womit die genKI das soziale Gesamtgefüge des Wissens- und Lehrangebots ins Rutschen bringt.
Der Elitenstatus wird durch Chatbots infrage gestellt, doch viele akademische Institutionen ignorieren diese Herausforderung. Besonders, wenn ein exkludierender Habitus gepflegt wird, wie es in den Naturwissenschaften im deutschsprachigen Raum oft der Fall ist2. Und Forschende bzw. Lehrende anderer Disziplinen diesen Habitus aufgrund des höheren Prestiges nachahmen.
Die gegenwärtige Geringschätzung der Lehre ist der tiefe Grund für das Übersehen der studentischen Bedürfnisse2. Und wenn ein knapp bemessenes Budget noch in die Aktivitäten der Third Mission fließt, verschlechtert das die Situation. So trifft die Geringschätzung der Lehre auf wenig betreute Studierende. Diese wiederum stürzen sich in verständlicher Gegenreaktion unvorbereitet und ungehemmt auf die Chatbots. Denn Chatbots bieten den Studierenden persönlich adressierte Antworten.
Diese Ignoranz der Hochschulen wird sowohl für die Hochschulen selbst als auch für die Studierenden langfristig ernüchternd sein.
9. Oktober 2024
Symbol für gefährdete Schönheit: Schloss Orth am Traunsee mit Traunstein und
'Schlafender Griechin' im Hintergrund
1 MacGrath, C./Farazouli, A./Cerratto-Pargman, T. (2024). Generative AI chatbots in higher education: a review of an emerging research area. Higher Education, Springer. Published online: 24. August 2024. https://doi.org/10.1007/s10734-024-01288-w
2 Steinhardt, I. (2024). Lehrpraktiken, Sozialisation und Selektion im Sozialraum Hochschule. In Vöing, N./Jenert, T./Neiske, I. et al. (2024). Hochschullehre postdigital. Lehren und Lernen neu gestalten. S. 27-53 bit.ly/3ZRYEwW
KI sortiert Große aus
Die Künstliche Intelligenz wird das Verhältnis zwischen Universitäten und Fachhochschulen verändern: Kurz- und mittelfristig werden die spezialisierte Institutionen gewinnen, also die Fachhochschulen und kleine regional- oder themenzentrierte Universitäten.
Diese Prognose ist gewagt, da die KI nach wie vor ein hohes Innovationspotenzial hat und niemand weiß, in welche Richtung dies gehen könnte und was das für die tertiäre Bildung bedeutet.
Die qualitative Sozialforschung verfügt über Ordnungswerkzeuge, die helfen, in unübersichtlichen Situationen und zeitlichen Abfolgen einen Überblick zu erhalten. Das Kodierparadigma von Strauss und Corbin1 ist eines dieser Werkzeuge.
Hierbei geht es um Ursachen, die ein Phänomen erzeugen. Das Phänomen unterliegt intervenierenden Bedingungen. Akteure wiederum entwickeln Strategien, um mit dem Phänomen umzugehen. Aus den Interaktionen entstehen Konsequenzen, siehe folgende Abbildung.
Je nach Definition existiert KI seit einem dreiviertel Jahrhundert. Eine breite öffentliche Aufmerksamkeit erhielt sie erst im November 2022 durch die Einführung von ChatGPT3. Nehmen wir dieses Ereignis als (jüngste) Ursache gemäß dem Kodierparadigma.
Der ab sofort einsetzende Wettbewerb zwischen verschiedenen AI-Modellen der großen US-Tech-Unternehmen Google, Meta, OpenAI, Microsoft, Amazon etc. entspricht den intervenierenden Bedingungen. Wobei Ursachen und intervenierende Bedingungen in den letzten zwei Jahren regelmäßig den Platz tauschten.
Lassen Sie uns das Blickfeld enger fassen und den Bildungsbereich betrachten. Als Kontext wird die höhere Bildung aufgefasst. Strategien sind nun zielgerichtete Vorgehensweisen von Universitäten/Hochschulen, Fachhochschulen, Akademien etc.
Tatsächlich, jetzt im September 2024, ist in Tageszeitungen von neuen Masterlehrgängen zu lesen, welche Künstliche Intelligenz ins Zentrum ihres Curriculums rückten.
Wer bietet diese an? Fachhochschulen und regionale Universitäten!
Fachhochschulen reagieren schnell auf den Konsens, dass der Umgang mit KI für die Wirtschaft entscheidend ist. Die ausbildungsorientierten Fachhochschulen mit ihrem direkten Draht zur jeweiligen Praxis werden aktiv. Das Gleiche gilt auch für regional verankerte kleinere Universitäten mit einem Bereichsfokus. Auch sie sind eng mit den lokalen Anforderungen und Bedürfnissen wettbewerbsintensiver Wirtschaftsbereiche verknüpft.
Sie bieten in Österreich insgesamt acht KI-Bachelor- oder Masterabschlüsse an2:
* FHs: je ein Studiengang an FH Campus Graz, FH Salzburg, FH OÖ und IMC Krems.
* Regionale Unis: zwei Studiengänge an der Uni Klagenfurt, je einer in Linz und Salzburg.
Wo bleiben die Wiener Giganten: Universität Wien, TU, WU? Was ist deren Strategie – oder haben sie keine? Erstaunlich, denn das Universitätsgesetz 2002 hat die Entscheidungsstrukturen der Universitäten zentralisiert. Rektoren können seitdem weitgehend autonom agieren: Die für viele Jahre bestellten Rektoren können schalten und walten, wie es ihnen gefällt. Mitbestimmung des Mittelbaus oder der Studierendenvertretung ist Vergangenheit.
Die Idee vom New Public Management und der damit verbundenen Machtfülle ist doch, dass die Universitätsspitze als Top-Management, ähnlich wie in der Privatwirtschaft, unabhängig agieren und rasch auf Veränderungen reagieren kann. Umso drängender die Frage: Warum setzen sich die großen österreichischen Universitäten nicht mit der Jahrhundertinnovation der KI auseinander?
Konsequenz: Wer sich nicht am Spiel beteiligt, hat nicht einmal schlechte Karten, er hat in dieser Runde bereits verloren.
24. September 2024
1 Strauss, Anselm & Corbin, Juliet (1990). Basics of qualitative research: grounded theory procedures and techniques
2 Studycheck (21.09.2024). Studium Künstliche Intelligenz. https://www.studycheck.de/studium/kuenstliche-intelligenz/seite-5?d=12
Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution1
Theodosius Dobzhansky
Viele haben sicher schon einen Teich voller Fische gesehen, die sich um eben ausgestreutes Futter balgen: Aufgerissene Mäuler sind sichtbar und Schwanzflossen peitschen die Oberfläche. Dieser Aufruhr erzeugt konzentrische Wellen, die bis an den Strand schwappen.
Die beiden Evolutionsbiologen Maturana und Varela hatten vielleicht eine solche Szene vor Augen, als sie 1973 eine neue Theorie präsentieren, jene der Organizational Ecology. Sie betrachten Organisationen als Lebewesen, die um Ressourcen streiten. Daraus entwickelte sich eine wissenschaftliche Teildisziplin, die im Deutschen Populationsökologie von Organisationen heißt. Organisationen werden als Populationen verstanden, die sich in einem ökologischen System (der Umwelt) behaupten oder eben nicht.
Private Unternehmen, öffentliche Einrichtungen, Bürokratien, NGOs, Kirchen, Gewerkschaften, die EU oder die Mafia sind Beispiele für Organisationen. Sie werden gegründet, nehmen Einfluss, wachsen oder gehen unter.
Überleben und Missionen
Der Überlebensimpuls ist tief in den Regelungen von Organisationen verankert. Er führt fast automatisch zum Bestimmen neuer Ziele und Schaffen von Aufgabenfeldern. So, wie wir es vom kapitalistischen Geschehen der Konkurrenz zwischen privaten Unternehmen gewöhnt sind. Und nein, in heutigen Zeiten sind auch staatliche Organisationen mit ihrem erreichten Stand unzufrieden. Sie wollen (oder müssen aufgrund neuer Vorgaben) einflussreicher werden. Sie vermehren ihre Aufgaben und entwerfen sich neu.
Die Mission (!) treibt sie an. Davon leiten sie Aufgaben ab und bedienen nicht selten Sonderinteressen, sie meinen, das sei ja für einen guten Zweck. Zum Erhalt ihrer Struktur haben sie sich ein Regelwerk gegeben, gelegentlich wurde dieses Regelwerk von außen oktryiert. Ihre Organe, Vorstände, Sachbearbeiter, Funktionäre oder Priester denken und handeln im Alltag gemäß einem Arsenal eingeschliffener Praktiken.
Langfristig behaupten sich Organisationen im Wettbewerb dann, wenn sie ihre Strukturen und ihre Kultur den Veränderungen anpassen. Selten geht der Impuls für Veränderungen von der obersten Spitze aus. Vielmehr durchleuchten die Manager von Untereinheiten die spezifische Umwelt nach Gelegenheiten, Ressourcen, aber auch nach Risiken3.
Ein erfolgreiches Ringen um die besseren Plätze wird durch Abdrängen anderer Organisationen erreicht. Die Methoden dieses Ringens sind zahlreich, sie können – eher gesellschaftsfreundlich – aus Innovationen bestehen oder – eher gesellschaftsfeindlich – aus dem Errichten von Markteintrittsbarrieren für Neuankömmlinge.
Sehr wirkungsvoll sind Hindernisse auf gestzlicher Basis. Öffentliche 'Verwandte' wie gesetzgebende Körperschaften machen regelmäßig mit. Um diese langfristigen Geschehnisse sichtbar zu machen, benötigt man einen Zeitraffer. Im Folgenden der Versuch, einen Zeitraffer anhand eines Textes zu präsentieren.
FHs als neue Fische im Teich
Die Universitäten in Österreich blicken auf eine fast 700 Jahre ruhmreiche Geschichte von Forschung und Lehre zur höheren Bildung zurück. In den 1990er Jahren werden Neuankömmlinge in der höheren Bildung gegründet: die Fachhochschulen (FHs). Sie besitzen von Haus aus einen engen Fokus auf praxisbezogene Anwendungen.
Das Fachhochschulgesetz 1993 definiert die zwei erstgenannten Ziele: „1. die Gewährleistung einer praxisbezogenen Ausbildung auf Hochschulniveau“ (§ 3 Abs 1 Z 1 FHStG) und die Ausbildung von Fähigkeiten, „[2.] die Aufgaben des jeweiligen Berufsfeldes dem Stand der Wissenschaft und den […] [3.] Anforderungen der Praxis entsprechend zu lösen“ (§ 3 Abs 1 Z 2 FHStG).
Aus Sicht der Universitäten schwimmen nun neue Fische im Teich der höheren Bildung, wie ärgerlich! Aus Sicht der Populationsökologie4 wird verständlich, was kommen musste und auch kam:
1. Universitäten blocken in der Praxis über Jahre die gesetzlich geforderte Durchgängigkeit von FH-Absolventen. Sie stellen zusätzliche Anforderungen und werfen den Studierenden Prügel zwischen die Beine.
Ein Beispiel erlebte ich vor zwei Jahrzehnten nach dem Start als Wissenschaftscoach: Der Absolvent einer technischen Fachhochschule wollte an einer Wiener Universität dissertieren. Die Chancen auf Erfolg erschienen gering, die (unmotiviert wirkenden inhaltlichen und bürokratischen) Hürden stapelten sich. Jedoch war er zäh und hatte es mit etwas Unterstützung meinerseits nach einigen Jahren geschafft.
2. Die Kronjuwelen werden den Fachhochschulen verweigert: das Promotionsrecht, das Recht zum Verleihen eines Doktorgrades. Die Argumente dagegen lesen sich in letzter Zeit zunehmend hanebüchern, wird doch an vielen FHs vorzeigbare angewandte Wissenschaft betrieben.
3. Das überarbeitete Universitätsgesetz 2002 weist plötzlich Aufgaben auf, welche bis dato den FHs vorbehalten waren, so etwa die direkte und spezifische Berufsausbildung. Das Gesetz formuliert Ziele, die unglaublich weit gefasst sind: „[Universitäten sind] hierdurch auch verantwortlich zur Lösung der Probleme des Menschen sowie [sind sie berufen] zur gedeihlichen Entwicklung der Gesellschaft und der natürlichen Umwelt beizutragen.“ (§ 1 UG 2002, in der Fassung vom 1.6.2021).
Verantwortung zu tragen für die Lösung von Problemen der Menschen? Für einzelne, viele oder alle Probleme? Die Unis sollen (als Sozialarbeiter:innen?) gesellschaftliche Risse kitten. Klar, sie müssen auch für die natürliche Umwelt da sein. Welch vermessene Ansprüche! Aber neue Gewässer locken, neues Futter winkt; die Unis fanden schnell einen Namen für die neuen Aufgaben: Third Mission.
Kein Stein bleibt für alle Zeiten auf dem anderen. Geologen wissen das. So läuft auch dieses Spiel. Die generative KI mischt nun die Karten neu. Unis haben die schlechteren Karten, FHs die besseren. Demnächst dazu mehr.
3. September 2024
1 Dobzhansky, T. (1973). Nothing in Biology Makes Sense Except in the Light of Evolution. The American Biology Teacher, 35(3), 125-129.
2 Maturana, H. R., & Varela, F. J. (1973). De Maquinas y Seres Vivos: Una Teoría Sobre la Organización Biológica. Santiago: Editorial Universitaria.
3 Seite 930 des als eine Gründungsarbeit von Organizational Ecology geltenden Artikels: Hannan, M. T., & Freeman, J. (1977). The Population Ecology of Organizations. American Journal of Sociology ·Vol 82, No. 5 (March 1977), S. 929-964.
4 Hannan, M. T., & Freeman, J. (1984). Structural Inertia and Organizational Change. American Sociological Review, Vol. 49, No. 2. (April 1984), S. 149-164.
Die "Third Mission" von Universitäten
Werden Aktivitäten, Dokumente und Aussendungen von Universitäten aus der Distanz betrachtet, so drängt sich eine Schlussfolgerung auf: Forschung und Lehre sind nicht mehr das Um und Auf deutschsprachiger Universitäten. Die Humboldt’sche Universität mit ihren zwei fundamentalen Aufgaben hat ausgedient. Obwohl seit Generationen erfolgreich praktiziert und international nachgeahmt, wird die Humboldt’sche Universität Schritt um Schritt verwässert.
Denn zur Forschung (der ersten Aufgabe, die nun First Mission heißt) und zur Lehre (der zweiten Aufgabe, die nun Second Mission heißt) gesellte sich in den letzten zwei Jahrzehnten eine dritte Aufgabe. Sie ist breit und umfangreich angelegt, und – wie der Begriff „Mission“ vermuten lässt – spielt Moralisch-Ethisches neben neoliberalen wirtschaftlichen Aspekten eine große Rolle.
Die Universität soll Industrie und Gesellschaft fördern sowie kulturelle, soziale und ökologische Projekte durchführen. Etwas detaillierter enthalten diese zusätzlichen Third-Mission-Aufgaben Folgendes:
- Förderung der Industrie durch Innovation, Patentierung und wirtschaftliche Verwertung von Forschungsergebnissen;
- Zeigen von gesellschaftlichem Engagement und Verantwortung für sowie Partizipation an sozialen Projekten;
- Förderung der kulturellen Entwicklung durch Organisation von Ausstellungen und öffentlichen Vorträgen;
- Implementierung von Inklusion und Nachhaltigkeit am Campus. 1
Diese vielfältigen Aufgaben verleiten zur Überlegung, dass diese Third Mission eigentlich eine Fourth, Fifth und Sixth Mission bedeutet. Dadurch soll die Universität zum Akteur in vielen Bereichen der Gesellschaft werden. Die Universität soll durch ihre Ressourcen und ihr Wissen zur Lösung von sozialen Herausforderungen beitragen, denn sie schultert nun auch eine Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft. Die Universität müsse zu einer transferorientierten Kommunikation wechseln. Ziel ist es, die ökonomische Wettbewerbsfähigkeit global zu steigern. Dies soll durch Anwendung des akkumulierten Wissenskapitals geschehen, um die Produktivität zu verbessern etc.
Bravo, so viele schöne Worte, so viel Wunschdenken! Im Überschwang dieser klingenden Begriffe wird ein fundamentales Prinzip unserer Welt übersehen: Es ist unmöglich, auf mehreren Kirtagen gleichzeitig zu tanzen. Das Prinzip der Superposition in der Quantenphysik, in der alle Möglichkeiten gleichzeitig vorhanden sind, gilt für unsere übliche Welt, dem Mesokosmos, nicht.
Oder gab es einen Durchbruch und es wurde an den Universitäten eine Zauberformel entwickelt – irgendwas mit Stringtheorie und elf Dimensionen? Gemäß dem Text auf der Website der größten Universität Österreichs, der Universität Wien, soll für einen Bereich der Third Mission gelten: „Unsere Weiterbildungen sind forschungsbasiert, interdisziplinär, hochqualitativ, international und praxisorientiert.“2 Also doch, die eierlegende Wollmilchsau hat sich aus den vielen, ursprünglich zusammengerollten Dimensionen der Stringtheorie materialisiert.
Lassen wir das als übliches Werbe-Geplänkel durchgehen, wie wir es bis zum Überdruss gewöhnt sind. In Österreich gewährte 2002 das Universitätsorganisationsgesetz den öffentlich finanzierten Universitäten eine hohe Autonomie. Und sie nutzen es auch. Sie diversifizieren, wie es Betriebswirtschaftler sagen. Die ersten beiden neuen Aufgaben der oben skizzierten vier werden hinsichtlich ihrer Auswirkungen anhand des Beispiels der Universität Wien näher betrachtet.
Erste Aufgabe der Third Mission: Förderung der Industrie
Die Uni Wien hat ein Transferzentrum eingerichtet. Dieses Zentrum soll den Technologie- und Innovationstransfer zwischen Wissenschaft und Wirtschaft unterstützen. Und offensichtlich macht das die Wiener Uni gut. So bewertet das globale Ranking von Times Higher Education (THE) Gesamtuniversitäten gemäß Indizes, die alle drei „Missionen“ berücksichtigen.3 Das Ergebnis 2024: Die Uni Wien wird mit dem Rang 119 ausgewiesen. Weltweit gesehen ist dies ein guter Platz. Details jedoch offenbaren eine Zusammensetzung der einzelnen Bereichsindizes, die nachdenklich stimmt. Der Rang 119 ist durch einen erheblichen Anstieg eines von fünf Bereichsindizes, nämlich jenes der Industrie (!), bestimmt.
Abbildung 1: Ranking-Entwicklung der Universität Wien bis 2024 mit Einzeldarstellung des Detail-Index Industrie
Die Uni Wien hat in den letzten beiden Jahren die Zusammenarbeit mit der Wirtschaft intensiviert. Was einen erheblichen finanziellen Vorteil inkludiert – es fließen Drittmittel. Schön. Ich stelle mir aber Fragen: Wird mühsam und mit hohen Investitionen erarbeitetes Know-how unter der Hand verscherbelt? Werden beispielsweise langfristig wirkende Früchte aus der Grundlagenforschung kurzfristig gegen Kleingeld zugunsten von Realisierungen der angewandten Wissenschaften geopfert? So bringt etwa der Titel einer finnisch-amerikanischen Arbeit dieses Vorgehen auf den Punkt: „Kommerzialisierung der akademischen Forschung“4.
Zweite Aufgabe der Third Mission: Engagement in der Gesellschaft
Aufgabe hier ist nicht eine breit und tief gegründete Bildung, sondern definitionsgemäß eine Berufsausbildung. Die Erfordernisse des jeweils aktuellen Arbeitsmarktes diktieren, was Unis durchführen sollen. So bietet das Postgraduate Center der Uni Wien 70 maßgeschneiderte Programme an: „Postgraduate programs from the University of Vienna will provide you with specialized knowledge and give you a significant advantage in the employment market.“5
Hinweise dafür, dass Universitäten solche Zentren betriebswirtschaftlich als Profitcenter begreifen, sind zahlreich. Ein Profitcenter ist eine organisatorische und tendenziell selbständige Einheit, die Gewinne an das Gesamtunternehmen abliefert. In der simplen Version wird dies durch erhöhte Einnahmen und reduzierte Ausgaben erreicht.
Auf der Startseite des Transferzentrums heißt es verschämt: „Please note that the tuition fees [fett im Original] for our programs do not comply with the general tuition fee for studying at the University of Vienna.“5 Das bedeutet: Aufpassen, es wird teuer! So viel zur Einnahmenseite.
Auf der Ausgabenseite hat man viele Hebel. Aus den oben angeführten vierzehntägigen Veranstaltungen zur gemeinsamen Forschung und Lehre wird im System der Third Mission ein Methoden-Block, der an einem Wochenende gelegt ist, da die Studierenden sind berufstätig. Solche intensiven 2x8-Stunden-Blocks verhindern jedoch aktivierendes kognitives Lernen.
Kommt es zu einem gerade bei Forschungsmethoden zentralen Nach- und Weiterdenken, um ein tiefes Verständnis zu schaffen? Fehlanzeige! Die zynische Botschaft lautet: Mach dir allein zu Hause einen Reim darauf, gib ein strukturiertes Exposé zur geplanten Forschungsarbeit ab, lade ein oder zwei Jahre später eine (vor allem formal perfekt wirkende und formatierte) wissenschaftlichen Arbeit hoch.
Es ist unter den aktuellen Vorgaben und Strukturen nicht anders möglich. Nebenberuflich tätige LektorInnen sind überlastet und rationieren ihre Betreuungszeit. Denn diese externen BetreuerInnen erhalten ein Butterbrot als Lohn, dazu die Ehre, sich UniversitätslektorIn auf der Visitenkarte nennen zu dürfen.
Als Resultate können gesehen werden: (1) Diese Transfercenters sind wirtschaftlich ertragreich für die Universität. (2) Es entstehen Minderwertigkeitsgefühle bei in ihren Berufen bereits erfolgreichen Erwachsenen. (3) Es werden Masterthesen geschrieben, die keiner ein zweites Mal lesen will. Sieht so „gesellschaftliches Engagement“ aus?
Third-Mission-Folge: Forschung und Lehre als leidtragende Bereiche?
Was tut sich bei der jahrhundertealten Hauptaufgabe, der Forschung, der First Mission? Im direkten Vergleich der Uni Wien mit den sieben im Ranking benachbarten Unis sind die Punkte für Forschungsqualität der Uni Wien geringer:
Abbildung 2: Forschungsqualitäts-Index weist 77 Punkte für die Universität Wien aus, die benachbarten Unis liegen höher und zwar zwischen 84 und 91
Noch deutlich schlechter ist das Verhältnis von Lehrenden zu Studierenden in der Second Mission, der Lehre:
Abbildung 3: Das Verhältnis an der Universität Wien ist 37 Studenten pro Lehrenden. Die benachbarten Universitäten weisen deutlich bessere Werte auf (zwischen 10 und 20 pro Lehrenden).
Und selbst das spiegelt nur eine oberflächliche Betrachtung wider. Mit rund 80% wird die überwiegende Mehrheit der Lehre von befristetem Personal wie Assistenten, Prä- und Postdocs, Drittmittelbeschäftigten und Lektoren getragen.5 Kein Wunder, dass in Sachen Lehre der THE-Index der Uni Wien im Vergleich zu den benachbarten Universitäten ungünstigere Ergebnisse aufweist:
Abbildung 4: Für die Lehre gibt es 49 Punkte für die Universität Wien; alle anderen benachbarten Unis liegen zwischen 51 und 56 Punkten
Man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass die Uni Wien an Ausgaben für das Lehrpersonal spart. Ich konnte in den 1980er- und 90er Jahren noch zweiwöchig stattfindende Diplomanden- und Dissertantenseminare erleben. Das sind Seminare, in denen First Mission und Second Mission integriert auftreten. In diesen wurde mit den Professoren, Assistenten und Studierenden gemeinsam das Design und die Methoden der Forschungsarbeiten besprochen sowie Ergebnisse interpretiert und diskutiert. Eben gemeinsam als forschende Gruppe mit gemeinsamen Aufgaben. Das spiegelt die universitas im ursprünglichen Sinn einer Humboldt‘schen Universität wider. Veranstaltungen mit einer solchen Qualität gibt es noch. Doch nicht überall ist Universität drinnen, wo Universität draufsteht, siehe obige Anmerkungen zur Durchführung von Lehre und Forschung im Rahmen Third Mission.
Third-Mission-Folge: KI und Ranking?
Die KI wird beim Faktor Third Mission kräftig mitmischen, insbesondere wenn Universitäten auf diese denk- und handlungsverändernde Innovation nicht, zu wenig oder uneinheitlich reagieren. Diese über Jahrzehnte „erarbeitete“ Effizienz universitärer Aktivitäten gerät nun ins Wanken.
Kommen wir wieder zurück auf das THE-Ranking der Universität Wien. Und zwar auf die hohen Werte für den Internationalen Ausblick. Diese waren auch ausschlaggebend für den guten Rang. Dieser Index jenseits des nationalen Horizonts könnte bald wieder sinken. Zwei Gründe sollen hierfür genannt werden:
Erstens beruht der internationale Ausblick vor allem auf Forschung und Lehre, also den klassischen Aufgaben der First und Second Mission. Da die Third Mission im Hintergrund national orientiert ist (es soll ja die eigene Wirtschaft gefördert und die eigene Gesellschaft verändert werden), wird sie langfristig negative Auswirkungen auf internationale Beziehungen haben.
Zweitens ist der Internationale Ausblick abhängig von der Reputation der Forschenden, von der Anziehungskraft der Universität für ausländische Studierende oder von potenziellen Kooperationen mit anderen Universitäten. Und hier kommt die generative KI ins Spiel.
Ohne wenigstens fakultätseinheitliche Regelungen für den Umgang mit KI wird die Hauptwährung in der Scientific Community, nämlich die Reputation, an Wert verlieren. Studierende aus dem Ausland werden sich genauer überlegen, ob eine Investition von Geld und Lebenszeit in ein Studium an rückständigen Universitäten sinnvoll ist.
Ebenso werden andere Universitäten kaum mehr daran denken, mit einer Universität zu kooperieren, die das innovativste kognitive Werkzeug der Gegenwart nicht regelkonform zu nutzen weiß.
15. August 2024
1 Diese vier Aufgaben stellen eine grobe Zusammenfassung vieler Facetten der Third Mission dar. Welche Möglichkeiten in welchen Institutionen gegeben sein können, zeigt ein 200-seitiges Werk: Hachmeister, C./Möllenkamp, M./Roessler, I./Scholz, C. (10.08.2024). Katalog von Facetten von und Indikatoren für Forschung und Third Mission an Hochschulen für angewandte Wissenschaften. Third Mission CHE_AP_189_Katalog_Forschung_Third_Mission.pdf
2 Transferzentrum Universität Wien (08.80.2024). https://transfer.univie.ac.at
3 THE (08.08.2024). Times Higher Education https://www.timeshighereducation.com/world-university-rankings/university-vienna
4 Nikulaien, R./Tahvanainen, A. (2013). Commercialization of academic research. A comparison between researchers in the U.S. and Finland. Working Paper. ETLA Working Papers, No. 8, The Research Institute of the Finnish Economy (ETLA), Helsinki
4 Müller, S./Part, F./Pühringer, S./Völkl, Y. (26.04.2024). Warum eine Quote für Befristungen allein nicht reicht. Der Standard. https://www.derstandard.at/story/3000000217005/warum-eine-quote-fuer-befristungen-alleine-nicht-reicht
5 Postgraduate Center der Universität Wien (09.08.2024). https://www.postgraduatecenter.at/en/
Naives Wu-wei
Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz formen einander.
Hoch und Tief gestalten einander.
Stimme und Ton ergänzen einander.
Vor und Nach folgen einander.
Deshalb verweilt der Weise im Nichttun
und lehrt ohne Worte.
Laotse, Tao Te King, Kapitel 2 1
Wu-wei in der chinesisch-taoistischen Philosophie bedeutet, die verschiedenen Seinsweisen und Mächte ihre Wirkungen zunächst ausüben zu lassen. Der Hinweis lautet: Halte dich zurück und betrachte, wie verschiedene Kräfte in Situationen einströmen und was sie bewirken.
Philosophisch und linguistisch naive Personen nehmen allerdings diese Stelle des Tao Te King wortwörtlich. Sie übersetzen Wu-wei einfach durch das angegebene „Nichttun“. Diese wortwörtliche Übernahme ist auch die verbreitetste Übersetzung. Aber im Zusammenhang mit anderen antiken Quellen wie etwa dem Zhuangzi (oft geschrieben auch als Chuang Tzu) von Zhuangzi wird deutlich:
Wu-wei bedeutet ein Anpassen an die jeweilige Situation durch harmonisch-spontanes Handeln, durch ein müheloses Handeln, das sich aus dem tiefen Verständnis der Situation und der Natur ergibt.
Solch ein kaum auffälliges Handeln nützt die wirkenden Kräfte in den Situationen und stellt ihnen nichts entgegen. Ähnlich wie ein strategisches Element im Judo oder in anderen Formen von Martial Arts gilt: Nütze den Angriffsschwung des Gegners und lass ihn ins Leere stolpern.
Was hat das mit KI zu tun?
Ja, alle Lebewesen stehen immer im Spannungsbogen zwischen Handeln oder Nichthandeln, Leben oder Nichtleben. Für Menschen des 21. Jahrhunderts hat sich das nochmals potenziert.
Odysseus ähnlich müssen wir zwischen den beiden mythologischen Meeresungeheuern navigieren: zwischen Scylla und Charybdis, die als gefährliche Strudel in der sizilianischen Meerenge von Messina identifiziert wurden. Wie im vorvorherigen Beitrag beschrieben, kamen McDonald’s-Manager einem Strudel zu nahe. Sie handelten hastig und ernteten einen schweren Image-Schaden. Österreichische Uni-Rektoren, -Dekane und -Entscheidungsorgane kommen gegenwärtig dem anderen Strudel zu nahe, indem sie bezüglich KI nicht (!) handeln.
Mitten im Jahr 2024, in dem in jeder Ausgabe einer qualitativen Zeitung oder Zeitschriften mindestens einmal über Künstliche Intelligenz geschrieben wird, entfaltet sich ein enormer psychologischer und sozialer Druck auf privatwirtschaftliche Entscheidungsträger. Sie sollen doch KI an so vielen Stellen und so tiefgreifend wie nur möglich einsetzen, lautet häufig die Botschaft zwischen den Zeilen. Ansonsten sei der Anschluss an die Konkurrenz in Kürze verloren.
Wirtschaftsartikel haben einen gemeinsamen Tenor: KI kann und wird in der Außenwirkung von Unternehmen Kunden und Lieferanten in ihren Prozessen beeinflussen. Dies wird zu Verschiebungen aller Art im Markt und in der Wertschöpfungskette führen. Genauso wird KI in der Innenwirkung von Unternehmen die Zusammenarbeit von Mitarbeitern fördern oder hemmen. Veränderungen von Strukturen, Abläufen und inneren Machtverhältnissen werden die Folge sein.
Ist wirklich zu erwarten, dass dies für öffentliche Organisationen wie Universitäten und Hochschulen nicht gilt?
Das naiv praktiziertes Wu-wei
Jahrhundertealte Organisationen wie die klassischen Universitäten sind träge. Sie mussten es sein, sonst hätten sie sich nicht so lange gehalten. Intuitiv neigen sie daher dazu, strategische Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Sie praktizieren Wu-wei im naiven Sinn des Nichttuns. Sie wagen sich nicht in die moderne Welt und schaffen keine universitätsweite, einheitliche Regelung zur KI.
Domani, morgen, nächstes oder übernächstes Semester ist Zeit genug. In der Zwischenzeit wird die Macht kleinteilig an die Lehrenden delegiert. Diese sollen entscheiden, ob und wie sie KI in ihren Lehrveranstaltungen einsetzen.
Und wie zu erwarten war – jede Seminarleiterin und jeder Seminarleiter macht etwas anderes, mal KI den Studenten verbieten, mal erlauben, mal nur selbst damit arbeiten, mal produktiv als Werkzeug ins Seminar einbauen. Klar, dass so etwas in kürzester Zeit zu Unsicherheit sowohl beim Lehrpersonal als auch bei den Studierenden führt.
Ein verantwortungsvoll praktiziertes Wu-wei
Ein verantwortungsvoller Einsatz von KI in Lehre und Forschung sähe anders aus. Denn einheitliche Regelungen sichern gleiche Standards für alle Studierenden und gewährleisten eine transparente Handhabung. In der Folge würde Missbrauch gehemmt und akademische Integrität gewahrt bleiben. Ja, auf den meisten Webseiten der tertiären Institutionen ist zu lesen, dass an einheitlichen Regelungen „gearbeitet wird“. Fein. Doch fast zwei Jahre nach der Einführung von ChatGPT und einer hochdynamischen Entwicklung der Sprachmodelle seither ist das zu wenig.
Ich denke, dass sich in kurzer Zeit diese Untätigkeit in den globalen Rankings der Universitäten auswirken wird. Zwar haben die Rankingverfahren unterschiedliche Kriterien, aber da die KI so viele Bereiche durchdringt, bleibt bei Untätigkeit nur eine Richtung offen – die nach unten.
Auf welchen Plätzen von Beurteilungen klassischer Rankingverfahren wie THE, QS oder Shanghai wird sich die Universität Wien in einigen Jahren wiederfinden? Kommt nach dem Aufwärtstrend der Universität Wien etwa im Ranking von Gesamtuniversitäten der letzten zehn Jahren ein weiterer Sprung? Gelingt ein Wechsel von einem Platz in der besseren Mittelgruppe zu einem Platz in der besseren Schlussgruppe?
Mehr darüber im nächsten Blog.
2. August 2024
1 Keybylion (31.07.2024). TAO TE KING VON LAOTSE AUF DEUTSCH. Möglichst originalgetreue Übersetzung mit hermetischen Parallelen. [https://www.keybylion.com/deutsch/tao-te-king-von-laotse](https://www.keybylion.com/deutsch/tao-te-king-von-laotse/#:~:text=Wenn die Welt das Schöne)
Neigen Inhaber von Positionen hoch oben zu Wu-wei oder zu Schläfrigkeit?
Ein Blick unter die Motorhaube der generativen KI
Das im vorhergehenden Blog-Beitrag geschilderte McDonald’s-Beispiel zeigt die Grenzen des GPT(Generative Pretrained Transformer)-Modells auf. Dieses in den USA entwickelte und seit zwei Jahren gepushte Modell gründet auf einem riesigen Pool von Wörtern einer Standardsprache. Hauptursache für die zahlreichen Missinterpretationen gesprochener Bestellungen dürften Akzente und Dialekte der amerikanischen Kunden gewesen sein.
Das lässt das GPT-Modell ins Schleudern geraten. Für eine auf Standard-Englisch vortrainierte KI bauen sich durch die individuelle Aussprache von Anwendern schwer zu überwindende Hindernisse auf. Die KI tut dann das, wofür sie programmiert ist: Sie bietet ein Ergebnis, auch wenn es in der realen Welt einen Nonsens ergibt.
Das Transformer-Modell
Wie bekannt, untersucht das vortrainierte Transformer-Modell die statistischen Verhältnisse eines Wortes zu einem anderen in einer bereits Monate oder Jahre vorher erstellten Datenbank. Es errechnet innerhalb eines neuronalen Netzwerks in überlagernden Ebenen (durch das sogenannte „Deep Learning“) Verhältnisse zwischen einzelnen Wörtern und baut Folge-Wahrscheinlichkeiten auf.
Soll nun ein Text von 1.000 Wörtern durch die KI mittels eines Prompts untersucht werden, so gilt: „Der Transformer benötigt 1.000 mal 1.000 Schritte, weil jedes Sequenzelement auf jedes andere Sequenzelement schaut“1.
Das heißt, der Aufwand der KI potenziert sich zum Quadrat mit den Anforderungen. Daraus folgt unmittelbar, nur ein einziges Wort mehr und die KI muss 1.000 zusätzliche Verhältnisse untersuchen. Das wirkt sich rasch auf die Rechenprozesse, benötigten Speicher, verbrauchten Strom und die Zeitdauer aus. Die Grenzen dieses Transformer-Modells werden wie anno dazumal als heiße Dampfwolke aus dem Wasserkühler eines überforderten Motors sichtbar.
Das LSTM-Modell
Das bis etwa 2017 in den Large Language-Modellen maßgebende Modell ist das LSTM (Long Short-Term Memory). Es wurde ab den 1990er Jahren in Europa entwickelt. Das zentrale Kennzeichen hier ist die Fähigkeit, auch im Moment des Abfragens Wörter, die zuvor (im Prompt oder im zu untersuchenden Text) erwähnt wurden, zu speichern. Diese Wörter (Begriffe) werden in Form kleiner Happen für längere Zeit behalten. Dementsprechend heißt es etwas ambivalent „Long Short-Term Memory“.
LSTM wurde in den letzten Jahren vom simpel gehaltenen Transformer aufgrund dessen „Skalierbarkeit“ überholt. Skalierbarkeit nennt man die Fähigkeit eines Systems, auch bei veränderten Größen weiter zu funktionieren. Meist meint man damit die Fähigkeit zu großem Wachstum. Einfacher ausgedrückt: Brutale Rechenpower und technische Tricks im Transformer-Modell haben über intelligentes Merken, Suchen und Bewerten gesiegt.
Obwohl der Transformer vom Konzept her ohne Gedächtnis für das Verstehen der Anweisungen auskommt und daher primitiver ist, haben schnelle parallele Chips, ausgelagerte Trainingseinheiten und riesige Server-Farmen das intelligente LSTM verdrängt.
Ausgetrickst und doch wieder im Kommen?
Kein Baum wächst in den Himmel, auch nicht die amerikanischen Mammutbäume. Wie das weltweit berichtete und vermutlich von Ihnen mit Schmunzeln gelesene McDonald’s-Beispiel zeigt, stößt das Transformer-Modell auch nach außen und gut sichtbar an seine Grenzen. Andere und klügere KI-Modelle geraten wieder in den Blick von Systementwicklern. Das Pendel könnte sogar zurückschwingen, denn eine verbesserte Version, das xLSTM, wurde Anfang Mai 2024 präsentiert2.
Dies ist eine neu entwickelte Variante des ursprünglichen LSTM, das die Stärken des Transformer-Modells mit den Vorteilen des LSTM kombinieren soll. Diese neue Variante speichert nicht nur die Wörter des Textes, sondern gewichtet sie auch. Denn es kann in einem höherdimensionalen Raum Kontexte bewerten und verschiedene Memorys mischen, um so eine bessere Antwort auf die Anfragen zu erhalten.2
Fazit: Im Gegensatz zum Transformer mit seinem exponentiell wachsenden Ressourcenverbrauch steigt in xLSTM-Netzen der Aufwand nur linear (!) mit den Anforderungen.
Im eben erwähnten Zitat eines Anforderungstextes von 1.000 Wörtern heißt es daher: „[...] braucht unser neuer xLSTM-Algorithmus nur 1.000 Schritte, nämlich einen Schritt, um ein Element der Sequenz abzuarbeiten“1. Das neue Modell konzentriert sich auf den Inhalt eines Wortes und merkt sich seine Bedeutung. Es vermeidet so den steil abfallenden Grenznutzen, wie es bei umfangreichen Texten der Fall ist.
Für kleinere Anwendungen, etwa in der Robotik, dürfte xLSTM bereits jetzt besser sein als das Transformer-Modell, da es effizienter mit den Daten in einem begrenzten Kontext umgeht. Kommt mittelfristig ein Modell-Change in der KI auf uns zu? Oder ein Wechsel zu Kombinationen mit dem Transformer und xLSTM?
Oder ein Wechsel zu dreifach gemischten Modellen. So könnten hier neben den erwähnten zwei Modellen auch klassische Datenbankabfragen zu Produkten, Preisen und Spezifikationen durchgeführt werden. Denn die Durchführung solcher Abfragen darf keinesfalls kreativ sein, sonst erhält man falsche Ergebnisse. Ist der alte Kontinent Europa doch nicht so rückständig, wie in den Medien häufig zu lesen ist?
26. Juli 2024
PS: Viel technisches Zeug ist im heutigen Blog zu lesen. In den nächsten Beiträgen wird’s wieder erzählerisch. Versprochen! 😊
Verzwickte Technik: Don Quijote im Kampf mit der Windmühle
1 Armbruster, A (15.07.2024). „Die großen Sprachmodelle sind so intelligent wie eine Datenbank“. Der deutsche Informatiker Sepp Hochreiter hat die Künstliche Intelligenz revolutioniert. Er sagt, was Computer vom Gehirn unterscheidet – und mit welcher Idee er die führenden KI-Modelle ausstechen will. Frankfurter Allgemeine. https://www.faz.net/pro/d-economy/ki-pionier-sepp-hochreiter-was-computer-vom-gehirn-unterscheidet-19840488.html
2 Beck, M./Auer,A./Klambauer, G. et al. (2014). xLSTM: Extended Long Short-Term Memory. arXiv:2405.04517v1 [cs.LG] 7 May 2024.
Das Fließen der Macht
Was wir sehen
275 Dollar verlangt ein McDonald’s-Standort für 26 Chicken-Nugget-Menüs. Bestellt haben nicht 26 Schüler einer Schulklasse, sondern zwei Frauen. Eine KI hatte die Bestellung aufgenommen.
Eine andere Frau bestellt Eiscreme, erhält aber vier Ketchup- und drei Butter-Beilagen sowie einmal Eiscreme mit Karamell und einmal Eiscreme ohne Karamell. Wohl bekomm's!
Videos von mündlichen Bestellungen bei McDonald’s und ihren missglückten Umsetzungen durch eine KI gehen viral auf TikTok und Co. Sie werden von Millionen Nutzern mit Schmunzeln und vielleicht auch Häme gesehen.
Das Management von McDonald’s stoppt den für zwei Jahre angesetzten Testlauf vorzeitig und beendet die Kooperation mit IBM und Google, es will in Zukunft ein KI-Modell der Konkurrenz einsetzen.
Was wir herauslesen
McDonald’s ist stolzer Systemgastronom und global die wertvollste Fast-Food-Marke. Wahrscheinlich wollte das Management Kosten sparen und damit den stark gesunkenen Profit wieder verbessern. Denn es gab Hiobs-Botschaften: Laut jährlichem Report war das Betriebsergebnis um 10%, die Konzern-Marge um 4%, das bereinigte Ergebnis je Aktie um 17% gesunken. Der Cashflow hatte sich gegenüber dem Vorjahr sogar um 23% reduziert1.
Da brennt der Hut! Vor allem, wenn man paradoxerweise die ausgeschüttete Dividende um 10% erhöht.
Also kommt die einfachste Managementstrategie in Anwendung: Kosten sparen. Nur wie? Na klar, wie in den letzten Jahren schon, durch Digitalisierung. Wo? Bei den investitions- und kostenintensiven 26.000 Drive-Thru-Standorten. Bei wem? Die mehr als 150.000 Mitarbeiter:innen bieten sich an.
Wodurch im Einzelnen? Durch automatisierte Aufnahme der Bestellung statt persönlicher Entgegennahme der Bestellungen von Lenkern, deren Wagen langsam einer nach dem anderen in den Drive-Thru-Standort rollen.
Super, her damit!
Wie es abgelaufen sein könnte – ein Theaterstück in fünf Akten
- Akt: Die Angst vor der Macht der Aktionäre bewirkt, dass trotz des Sinkens betriebswirtschaftlicher Kennzahlen ins tiefe Rot die Dividende für sie erhöht wird.
–> Macht wird ausgeübt auf Basis von Shareholder-Rechtstiteln (Aktien). - Akt: Wenn es brennt, löscht das Management. Allerdings vorerst nur dort, wo es leicht geht: bei den Untergebenen. Dann werden viele der zahlreichen Beschäftigten in den 26.000 Drive-Thru-Standorten durch Digitalisierung wegrationalisiert.
–> Macht wird hierarchisch von oben nach unten ausgeübt. - Akt: Digitalisiert wird nach der letzten Technologie- und Managementmode: Die gerade auf dem Markt erscheinende generative KI wird überhastet eingesetzt, deren Beschränkung blind ignoriert.
–> Der geballte und nicht hinterfragte Mainstream in seichten Manager-Magazinen übt Macht aus. - Akt: Es kommt, wie es kommen musste: Viral gegangene Videos, die Millionen Menschen sehen, verpassen dem MacDonald’s-Image einen Kratzer.
–> Die Käufermacht realer und potenzieller Kunden von McDonald’s-Produkten bekommt der Konzern zu spüren. - Akt: Das Management ruft daraufhin nicht "Mea culpa!", sondern sucht Sündenböcke und findet sie in IBM und Google. Die Vereinbarung zwischen McDonald’s und den beiden Unternehmen wird vorzeitig beendet, wobei erhebliche Entschädigungssummen wohl eine Rolle spielen.
–> Der Konzern übt Käufermacht auf Basis von Technologie- und Dienstleistungszukäufen aus.
Worauf Macht beruht
Dieses Beispiel zeigt Akte von Machtausübungen. Es belegt, dass die Quellen der Macht unterschiedlich sind: Rechtstitel, leitende Positionen in Organisationen, Geld, Know-how, Medien, Nachfrage am Markt sind Träger der Macht. In anderen Konstellationen fungieren physische und psychische Gewalt, Charisma, soziale Geschicklichkeit oder sozial geteilte Einstellungen als Ressourcen.
Macht als unsichtbare Disposition für Wirkungen sollte daher nicht verwechselt werden mit ihren sichtbaren Quellen/den Ressourcen/den Trägern.
Macht als Wander-Chamäleon
Macht kann ihre Wirkfelder innerhalb kürzester Zeit wechseln. Wie in einem Wasserfall springt Macht von Stufe zu Stufe tiefer. Aber wie in einem Escher-Bild steigt sie mitunter wieder hinauf, denn auch die Personen ganz oben unterliegen der Macht. Macht wirkt in alle Richtungen und aus allen Richtungen. Hierin liegt Trost für unser Leben in einer komplexen Welt. Macht wirkt und kann doch im nächsten Moment schwinden.
12. Juli 2024
Der Tagliamento im italienischen Friaul, einer der letzten Wildflüsse Europas (November 2023)
PS: KI wird die Machtverhältnisse mit der Zeit verändern. Als Disposition zur Wirkung zwischen Organisation und Mensch. Auf diese Weise wird KI die gesamte Wertschöpfungskette von Produkten und Dienstleistungen verändern. Wie und wohin die Macht sich verlagern wird, ist nicht vorauszusehen.
1 McDonald’s Corporation (10.07.2024). Annual Report. https://corporate.mcdonalds.com/content/dam/sites/corp/nfl/pdf/MCD_2023_Annual_Report.pdf
Wissen = Macht?
„Früher hatten einige wenige in der Organisation Wissen und damit Macht.
Jetzt kommt das Wissen von der KI und ist für alle zugänglich.“1
Autsch! Nicht schon wieder Wissen = Macht. Diese simplifizierende Gleichung ähnelt dem clownesken Wiener Wurschtl – genauso wie er ist auch diese Gleichsetzung nicht umzubringen. Sie scheint ein akzeptiertes Steinchen im Mosaik der Allgemeinbildung zu sein. Sie ploppt daher regelmäßig auf, wenn Personen meinen, Hintergründe von Wissen und deren Folgen zu durchschauen. Und sich bemüßigt fühlen, darüber zu dozieren.
Wir wissen wenig über Macht – eine kürzestmögliche Rückschau
Seit mehr als zweitausend Jahren wird über den schillernden Begriff der Macht geredet, geschrieben und philosophiert. Im abendländischen Denken taucht er erstmals bei den Sophisten auf, als sie die menschlichen Motive, politischen Einsichten und militärischen Überlegungen des griechischen Feldherrn Thukydides kritisch analysieren2.
Im Christentum, startend mit Paulus, soll man sich den übergeordneten Mächten unterwerfen, da sie von Gott verordnet seien3. In der wiedergeborenen Antike (Renaissance) nimmt Machiavelli als Staats- und Kriegsphilosoph den antiken Faden wieder auf – erfolgreiche Fürsten kommen ohne Moral und Ethik aus, wie etwa in seinem Werk „Dell’arte della guerra“4 dargestellt.
Die Erkundungen des Phänomens Macht ziehen sich über tausende Seiten hinweg, von Hobbes, Kant, Hegel, Marx, Nietzsche bis hin zu Soziologen, Politikwissenschaftlern und Systemtheoretikern des 20. Jahrhunderts wie Weber, Canetti, Foucault und Luhmann. Warum finden sie alle die Macht so faszinierend? Sie kann von heute auf morgen das Leben von uns allen verändern.
Zahllose Machttheorien wurden propagiert, doch es gibt nur eine Erkenntnis, nämlich dass es keine Erkenntnis gibt. Fließend und farbverändernd wie ein Chamäleon zeigt sich Macht. Wie in der modernen Quantenphysik den sogenannten Teilchen kein Ort, keine Ladung oder kein Spin gleichzeitig zugeordnet werden kann, sie also keine Teilchen mehr sind, so verflüchtigt sich Macht in unserer beschleunigten Welt, wie Zygmunt Bauman meint5.
Zwischenfazit
Strukturen und Relationen zwischen Menschen sind nicht die Folge von lange gültigen Regeln, sondern im Gegenteil: Strukturen und Relationen erzeugen eine kurzlebige Wirklichkeit im Verhältnis der Menschen zueinander.
Das 'Machen' unserer Alten
Fangen wir von vorne an: Wie haben unsere deutschsprachigen Vorfahren dieses Wort verstanden? Macht weist zwei unterschiedliche Wurzeln auf:
1) „magh-“, was können, vermögen, fähig sein bedeutet. Dieses Magh weist in die Zukunft und steht für ein Vermögen, eine noch nicht realisierte Potenz.
2) „mag-“ im Sinne des konkreten Machens bedeutet handwerklich Durchgeführtes, nämlich kneten, pressen und formen. Dieses Machen-Mag verweist darauf, was bei der Ausübung des Vermögens geschieht, was tatsächlich und unübersehbar zu Wirkungen führt6.
Macht kann folglich als Disposition für zukünftige Wirkungen aufgefasst werden. Quasi als ein Magnetfeld, das unsichtbar ist, aber dennoch wirkt. Im Wort Macht steckt die Zumutung, dass andere etwas tun sollen, sonst "sie geknetet oder gepresst werden", wie Starwars-Meister Yoda sagen würde.
Vorläufiges Ergebnis
Kommen wir zurück zum Beginn dieses Essays, zu den Gleichsetzungen und Schlussfolgerungen im Zitat:
Axiom 1: KI = Wissen für alle.
Axiom 2: Wissen = Macht.
--> Schlussfolgerung 1: KI vermittelt Wissen und erzeugt damit die Macht, uns zu formen, zu kneten und zu pressen.
--> Schlussfolgerung 2: Auf das strategische Top-Management in Organisationen kommt eine Machtverschiebung nach unten zu. Die Top-Manager sind es demnächst, die von der Basis geformt, geknetet und gepresst werden.
Anders formuliert: KI macht aus ehemals Mächtigen Ohnmächtige.
3. Juli 2024
PS: Dies soll ein spannender „Cliffhanger“ sein, der Sie, liebe Leser:innen, dazu verführt, auf Teil zwei des Macht-Essays zu warten und ihn zu lesen. ;-)
1 “Wie sich die KI auf Führung und Macht auswirkt.” Die Presse, 29.06.2024, S. K4. Diese Aussage wurde in einem Artikel Forscherinnen zum strategischen Management an der Johannes-Kepler-Universität in Linz zugeschrieben.
2 Juchler, I. (2015). Thukydides. Der Melier-Dialog. In: Narrationen in der politischen Bildung: Band 1: Sophokles, Thukydides, Kleist und Hein. Wiesbaden: Springer, S. 45-72.
3 Paulus, Brief an die Römer, 13:1.
4 Machiavelli, N. (07.07.2024). Dell’arte della guerra. https://it.wikisource.org/wiki/Dell%27arte_della_guerra.
5 Bauman, Z. (2007). Leben in der Flüchtigen Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 155-158.
6 Gerhardt, V. (2012). Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches. Berlin: Walter de Gruyter. S. 10.