Das Fließen der Macht
Was wir sehen
275 Dollar verlangt ein McDonald’s-Standort für 26 Chicken-Nugget-Menüs. Bestellt haben nicht 26 Schüler einer Schulklasse, sondern zwei Frauen. Eine KI hatte die Bestellung aufgenommen.
Eine andere Frau bestellt Eiscreme, erhält aber vier Ketchup- und drei Butter-Beilagen sowie einmal Eiscreme mit Karamell und einmal Eiscreme ohne Karamell. Wohl bekomm's!
Videos von mündlichen Bestellungen bei McDonald’s und ihren missglückten Umsetzungen durch eine KI gehen viral auf TikTok und Co. Sie werden von Millionen Nutzern mit Schmunzeln und vielleicht auch Häme gesehen.
Das Management von McDonald’s stoppt den für zwei Jahre angesetzten Testlauf vorzeitig und beendet die Kooperation mit IBM und Google, es will in Zukunft ein KI-Modell der Konkurrenz einsetzen.
Was wir herauslesen
McDonald’s ist stolzer Systemgastronom und global die wertvollste Fast-Food-Marke. Wahrscheinlich wollte das Management Kosten sparen und damit den stark gesunkenen Profit wieder verbessern. Denn es gab Hiobs-Botschaften: Laut jährlichem Report war das Betriebsergebnis um 10%, die Konzern-Marge um 4%, das bereinigte Ergebnis je Aktie um 17% gesunken. Der Cashflow hatte sich gegenüber dem Vorjahr sogar um 23% reduziert1.
Da brennt der Hut! Vor allem, wenn man paradoxerweise die ausgeschüttete Dividende um 10% erhöht.
Also kommt die einfachste Managementstrategie in Anwendung: Kosten sparen. Nur wie? Na klar, wie in den letzten Jahren schon, durch Digitalisierung. Wo? Bei den investitions- und kostenintensiven 26.000 Drive-Thru-Standorten. Bei wem? Die mehr als 150.000 Mitarbeiter:innen bieten sich an.
Wodurch im Einzelnen? Durch automatisierte Aufnahme der Bestellung statt persönlicher Entgegennahme der Bestellungen von Lenkern, deren Wagen langsam einer nach dem anderen in den Drive-Thru-Standort rollen.
Super, her damit!
Wie es abgelaufen sein könnte – ein Theaterstück in fünf Akten
- Akt: Die Angst vor der Macht der Aktionäre bewirkt, dass trotz des Sinkens betriebswirtschaftlicher Kennzahlen ins tiefe Rot die Dividende für sie erhöht wird.
–> Macht wird ausgeübt auf Basis von Shareholder-Rechtstiteln (Aktien). - Akt: Wenn es brennt, löscht das Management. Allerdings vorerst nur dort, wo es leicht geht: bei den Untergebenen. Dann werden viele der zahlreichen Beschäftigten in den 26.000 Drive-Thru-Standorten durch Digitalisierung wegrationalisiert.
–> Macht wird hierarchisch von oben nach unten ausgeübt. - Akt: Digitalisiert wird nach der letzten Technologie- und Managementmode: Die gerade auf dem Markt erscheinende generative KI wird überhastet eingesetzt, deren Beschränkung blind ignoriert.
–> Der geballte und nicht hinterfragte Mainstream in seichten Manager-Magazinen übt Macht aus. - Akt: Es kommt, wie es kommen musste: Viral gegangene Videos, die Millionen Menschen sehen, verpassen dem MacDonald’s-Image einen Kratzer.
–> Die Käufermacht realer und potenzieller Kunden von McDonald’s-Produkten bekommt der Konzern zu spüren. - Akt: Das Management ruft daraufhin nicht "Mea culpa!", sondern sucht Sündenböcke und findet sie in IBM und Google. Die Vereinbarung zwischen McDonald’s und den beiden Unternehmen wird vorzeitig beendet, wobei erhebliche Entschädigungssummen wohl eine Rolle spielen.
–> Der Konzern übt Käufermacht auf Basis von Technologie- und Dienstleistungszukäufen aus.
Worauf Macht beruht
Dieses Beispiel zeigt Akte von Machtausübungen. Es belegt, dass die Quellen der Macht unterschiedlich sind: Rechtstitel, leitende Positionen in Organisationen, Geld, Know-how, Medien, Nachfrage am Markt sind Träger der Macht. In anderen Konstellationen fungieren physische und psychische Gewalt, Charisma, soziale Geschicklichkeit oder sozial geteilte Einstellungen als Ressourcen.
Macht als unsichtbare Disposition für Wirkungen sollte daher nicht verwechselt werden mit ihren sichtbaren Quellen/den Ressourcen/den Trägern.
Macht als Wander-Chamäleon
Macht kann ihre Wirkfelder innerhalb kürzester Zeit wechseln. Wie in einem Wasserfall springt Macht von Stufe zu Stufe tiefer. Aber wie in einem Escher-Bild steigt sie mitunter wieder hinauf, denn auch die Personen ganz oben unterliegen der Macht. Macht wirkt in alle Richtungen und aus allen Richtungen. Hierin liegt Trost für unser Leben in einer komplexen Welt. Macht wirkt und kann doch im nächsten Moment schwinden.
12. Juli 2024
Der Tagliamento im italienischen Friaul, einer der letzten Wildflüsse Europas (November 2023)
PS: KI wird die Machtverhältnisse mit der Zeit verändern. Als Disposition zur Wirkung zwischen Organisation und Mensch. Auf diese Weise wird KI die gesamte Wertschöpfungskette von Produkten und Dienstleistungen verändern. Wie und wohin die Macht sich verlagern wird, ist nicht vorauszusehen.
1 McDonald’s Corporation (10.07.2024). Annual Report. https://corporate.mcdonalds.com/content/dam/sites/corp/nfl/pdf/MCD_2023_Annual_Report.pdf