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Wissen = Macht?

 

 

„Früher hatten einige wenige in der Organisation Wissen und damit Macht.
 Jetzt kommt das Wissen von der KI und ist für alle zugänglich.“
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Autsch! Nicht schon wieder  Wissen = Macht. Diese simplifizierende Gleichung ähnelt dem clownesken Wiener Wurschtl – genauso wie er ist auch diese Gleichsetzung nicht umzubringen. Sie scheint ein akzeptiertes Steinchen im Mosaik der Allgemeinbildung zu sein. Sie ploppt daher regelmäßig auf, wenn Personen meinen, Hintergründe von Wissen und deren Folgen zu durchschauen. Und sich bemüßigt fühlen, darüber zu dozieren.

 

Wir wissen wenig über Macht – eine kürzestmögliche Rückschau

Seit mehr als zweitausend Jahren wird über den schillernden Begriff der Macht geredet, geschrieben und philosophiert. Im abendländischen Denken taucht er erstmals bei den Sophisten auf, als sie die menschlichen Motive, politischen Einsichten und militärischen Überlegungen des griechischen Feldherrn Thukydides kritisch analysieren2.

Im Christentum, startend mit Paulus, soll man sich den übergeordneten Mächten unterwerfen, da sie von Gott verordnet seien3. In der wiedergeborenen Antike (Renaissance) nimmt Machiavelli als Staats- und Kriegsphilosoph den antiken Faden wieder auf – erfolgreiche Fürsten kommen ohne Moral und Ethik aus, wie etwa in seinem Werk „Dell’arte della guerra“4 dargestellt.

 

Die Erkundungen des Phänomens Macht ziehen sich über tausende Seiten hinweg, von Hobbes, Kant, Hegel, Marx, Nietzsche bis hin zu Soziologen, Politikwissenschaftlern und Systemtheoretikern des 20. Jahrhunderts wie Weber, Canetti, Foucault und Luhmann. Warum finden sie alle die Macht so faszinierend? Sie kann von heute auf morgen das Leben von uns allen verändern.

Zahllose Machttheorien wurden propagiert, doch es gibt nur eine Erkenntnis, nämlich dass es keine Erkenntnis gibt. Fließend und farbverändernd wie ein Chamäleon zeigt sich Macht. Wie in der modernen Quantenphysik den sogenannten Teilchen kein Ort, keine Ladung oder kein Spin gleichzeitig zugeordnet werden kann, sie also keine Teilchen mehr sind, so verflüchtigt sich Macht in unserer beschleunigten Welt, wie Zygmunt Bauman meint5.

 

Zwischenfazit

Strukturen und Relationen zwischen Menschen sind nicht die Folge von lange gültigen Regeln, sondern im Gegenteil: Strukturen und Relationen erzeugen eine kurzlebige Wirklichkeit im Verhältnis der Menschen zueinander.

 

 

 

Das 'Machen' unserer Alten

Fangen wir von vorne an: Wie haben unsere deutschsprachigen Vorfahren dieses Wort verstanden? Macht weist zwei unterschiedliche Wurzeln auf:

1) „magh-“, was können, vermögen, fähig sein bedeutet. Dieses Magh weist in die Zukunft und steht für ein Vermögen, eine noch nicht realisierte Potenz.

2) „mag-“ im Sinne des konkreten Machens bedeutet handwerklich Durchgeführtes, nämlich kneten, pressen und formen. Dieses Machen-Mag verweist darauf, was bei der Ausübung des Vermögens geschieht, was tatsächlich und unübersehbar zu Wirkungen führt6. 

Macht kann folglich als Disposition für zukünftige Wirkungen aufgefasst werden. Quasi als ein Magnetfeld, das unsichtbar ist, aber dennoch wirkt. Im Wort Macht steckt die Zumutung, dass andere etwas tun sollen, sonst "sie geknetet oder gepresst werden", wie Starwars-Meister Yoda sagen würde.

 

Vorläufiges Ergebnis 

Kommen wir zurück zum Beginn dieses Essays, zu den Gleichsetzungen und Schlussfolgerungen im Zitat: 

Axiom 1: KI = Wissen für alle.

Axiom 2: Wissen = Macht.

 

--> Schlussfolgerung 1: KI vermittelt Wissen und erzeugt damit die Macht, uns zu formen, zu kneten und zu pressen.

--> Schlussfolgerung 2: Auf das strategische Top-Management in Organisationen kommt eine Machtverschiebung nach unten zu. Die Top-Manager sind es demnächst, die von der Basis geformt, geknetet und gepresst werden.

Anders formuliert: KI macht aus ehemals Mächtigen Ohnmächtige.

 

3. Juli 2024

 

PS: Dies soll ein spannender „Cliffhanger“ sein, der Sie, liebe Leser:innen, dazu verführt, auf Teil zwei des Macht-Essays zu warten und ihn zu lesen. ;-)

 

1 “Wie sich die KI auf Führung und Macht auswirkt.” Die Presse, 29.06.2024, S. K4. Diese Aussage wurde in einem Artikel Forscherinnen zum strategischen Management an der Johannes-Kepler-Universität in Linz zugeschrieben.

2 Juchler, I. (2015). Thukydides. Der Melier-Dialog. In: Narrationen in der politischen Bildung: Band 1: Sophokles, Thukydides, Kleist und Hein. Wiesbaden: Springer, S. 45-72.

3 Paulus, Brief an die Römer, 13:1.

4 Machiavelli, N. (07.07.2024). Dell’arte della guerra. https://it.wikisource.org/wiki/Dell%27arte_della_guerra.

5 Bauman, Z. (2007). Leben in der Flüchtigen Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 155-158.

6 Gerhardt, V. (2012). Vom Willen zur Macht: Anthropologie und Metaphysik der Macht am exemplarischen Fall Friedrich Nietzsches. Berlin: Walter de Gruyter. S. 10.