Naives Wu-wei
Sein und Nichtsein erzeugen einander.
Schwer und Leicht vollenden einander.
Lang und Kurz formen einander.
Hoch und Tief gestalten einander.
Stimme und Ton ergänzen einander.
Vor und Nach folgen einander.
Deshalb verweilt der Weise im Nichttun
und lehrt ohne Worte.
Laotse, Tao Te King, Kapitel 2 1
Wu-wei in der chinesisch-taoistischen Philosophie bedeutet, die verschiedenen Seinsweisen und Mächte ihre Wirkungen zunächst ausüben zu lassen. Der Hinweis lautet: Halte dich zurück und betrachte, wie verschiedene Kräfte in Situationen einströmen und was sie bewirken.
Philosophisch und linguistisch naive Personen nehmen allerdings diese Stelle des Tao Te King wortwörtlich. Sie übersetzen Wu-wei einfach durch das angegebene „Nichttun“. Diese wortwörtliche Übernahme ist auch die verbreitetste Übersetzung. Aber im Zusammenhang mit anderen antiken Quellen wie etwa dem Zhuangzi (oft geschrieben auch als Chuang Tzu) von Zhuangzi wird deutlich:
Wu-wei bedeutet ein Anpassen an die jeweilige Situation durch harmonisch-spontanes Handeln, durch ein müheloses Handeln, das sich aus dem tiefen Verständnis der Situation und der Natur ergibt.
Solch ein kaum auffälliges Handeln nützt die wirkenden Kräfte in den Situationen und stellt ihnen nichts entgegen. Ähnlich wie ein strategisches Element im Judo oder in anderen Formen von Martial Arts gilt: Nütze den Angriffsschwung des Gegners und lass ihn ins Leere stolpern.
Was hat das mit KI zu tun?
Ja, alle Lebewesen stehen immer im Spannungsbogen zwischen Handeln oder Nichthandeln, Leben oder Nichtleben. Für Menschen des 21. Jahrhunderts hat sich das nochmals potenziert.
Odysseus ähnlich müssen wir zwischen den beiden mythologischen Meeresungeheuern navigieren: zwischen Scylla und Charybdis, die als gefährliche Strudel in der sizilianischen Meerenge von Messina identifiziert wurden. Wie im vorvorherigen Beitrag beschrieben, kamen McDonald’s-Manager einem Strudel zu nahe. Sie handelten hastig und ernteten einen schweren Image-Schaden. Österreichische Uni-Rektoren, -Dekane und -Entscheidungsorgane kommen gegenwärtig dem anderen Strudel zu nahe, indem sie bezüglich KI nicht (!) handeln.
Mitten im Jahr 2024, in dem in jeder Ausgabe einer qualitativen Zeitung oder Zeitschriften mindestens einmal über Künstliche Intelligenz geschrieben wird, entfaltet sich ein enormer psychologischer und sozialer Druck auf privatwirtschaftliche Entscheidungsträger. Sie sollen doch KI an so vielen Stellen und so tiefgreifend wie nur möglich einsetzen, lautet häufig die Botschaft zwischen den Zeilen. Ansonsten sei der Anschluss an die Konkurrenz in Kürze verloren.
Wirtschaftsartikel haben einen gemeinsamen Tenor: KI kann und wird in der Außenwirkung von Unternehmen Kunden und Lieferanten in ihren Prozessen beeinflussen. Dies wird zu Verschiebungen aller Art im Markt und in der Wertschöpfungskette führen. Genauso wird KI in der Innenwirkung von Unternehmen die Zusammenarbeit von Mitarbeitern fördern oder hemmen. Veränderungen von Strukturen, Abläufen und inneren Machtverhältnissen werden die Folge sein.
Ist wirklich zu erwarten, dass dies für öffentliche Organisationen wie Universitäten und Hochschulen nicht gilt?
Das naiv praktiziertes Wu-wei
Jahrhundertealte Organisationen wie die klassischen Universitäten sind träge. Sie mussten es sein, sonst hätten sie sich nicht so lange gehalten. Intuitiv neigen sie daher dazu, strategische Entscheidungen auf die lange Bank zu schieben. Sie praktizieren Wu-wei im naiven Sinn des Nichttuns. Sie wagen sich nicht in die moderne Welt und schaffen keine universitätsweite, einheitliche Regelung zur KI.
Domani, morgen, nächstes oder übernächstes Semester ist Zeit genug. In der Zwischenzeit wird die Macht kleinteilig an die Lehrenden delegiert. Diese sollen entscheiden, ob und wie sie KI in ihren Lehrveranstaltungen einsetzen.
Und wie zu erwarten war – jede Seminarleiterin und jeder Seminarleiter macht etwas anderes, mal KI den Studenten verbieten, mal erlauben, mal nur selbst damit arbeiten, mal produktiv als Werkzeug ins Seminar einbauen. Klar, dass so etwas in kürzester Zeit zu Unsicherheit sowohl beim Lehrpersonal als auch bei den Studierenden führt.
Ein verantwortungsvoll praktiziertes Wu-wei
Ein verantwortungsvoller Einsatz von KI in Lehre und Forschung sähe anders aus. Denn einheitliche Regelungen sichern gleiche Standards für alle Studierenden und gewährleisten eine transparente Handhabung. In der Folge würde Missbrauch gehemmt und akademische Integrität gewahrt bleiben. Ja, auf den meisten Webseiten der tertiären Institutionen ist zu lesen, dass an einheitlichen Regelungen „gearbeitet wird“. Fein. Doch fast zwei Jahre nach der Einführung von ChatGPT und einer hochdynamischen Entwicklung der Sprachmodelle seither ist das zu wenig.
Ich denke, dass sich in kurzer Zeit diese Untätigkeit in den globalen Rankings der Universitäten auswirken wird. Zwar haben die Rankingverfahren unterschiedliche Kriterien, aber da die KI so viele Bereiche durchdringt, bleibt bei Untätigkeit nur eine Richtung offen – die nach unten.
Auf welchen Plätzen von Beurteilungen klassischer Rankingverfahren wie THE, QS oder Shanghai wird sich die Universität Wien in einigen Jahren wiederfinden? Kommt nach dem Aufwärtstrend der Universität Wien etwa im Ranking von Gesamtuniversitäten der letzten zehn Jahren ein weiterer Sprung? Gelingt ein Wechsel von einem Platz in der besseren Mittelgruppe zu einem Platz in der besseren Schlussgruppe?
Mehr darüber im nächsten Blog.
2. August 2024
1 Keybylion (31.07.2024). TAO TE KING VON LAOTSE AUF DEUTSCH. Möglichst originalgetreue Übersetzung mit hermetischen Parallelen. [https://www.keybylion.com/deutsch/tao-te-king-von-laotse](https://www.keybylion.com/deutsch/tao-te-king-von-laotse/#:~:text=Wenn die Welt das Schöne)
Neigen Inhaber von Positionen hoch oben zu Wu-wei oder zu Schläfrigkeit?