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KI wird ForscherInnen dazu bringen, den Forschungsweg offenzulegen.

 

 

 

 

 

 

Früher gaben Doktoranden nach drei oder vier Jahren des Recherchierens, Forschens und Schreibens eine reich gegliederte Arbeit mit einem mehrdutzendseitigen Literaturverzeichnis als Dissertation ab. Das Thema war in der Regel seriös und tiefschürfend aufbereitet worden, keine Frage.

Fehlende Problemstellung, grobe Zielangabe, die aus einer Wiederholung des Themas besteht, und nicht genau formulierte Forschungsfragen führten häufig zu mäandernder Darstellung und folglich mangelnder Stringenz.

Es entstanden mehrhundertseitige akademische Wälzer, die verschiedene Perspektiven des Themas lose zusammenhängend durchleuchtet hatten.

Man erfuhr, wie die rechtliche Seite in der Schweiz aussieht, die historische Situation in Österreich und die administrative Umsetzung in Deutschland. Immer dabei: ein Exkurs. Ein unpassendes Kapitel, was der Name schon anzeigt: Ex-Kurs, ein Synonym für ‚Abweichung, Vom-Wege-abgekommen-Sein ‘.

 

Das ist seit einigen Jahren weitgehend vorbei, abgesehen von Ausnahmen.

Es wird eine stringente lineare Argumentationsstruktur gefordert, beginnend mit der Problemstellung, dann

–> den abgeleiteten Forschungsfragen (und im quantitativen Fall präzisierten Hypothesen)

–> dem Forschungsdesign


–> dem Forschungsstand

–> den verwendeten Methoden


–> den Ergebnissen inklusive Schlussfolgerungen

–> der Diskussion, Limitation und Ausblick.

Jeder Schritt und die Reihenfolge sollten überzeugend begründet sein, um einen roten Faden erkennbar zu machen.

 

Dabei weiß jeder, dass Forschung anders verläuft: in un-zusammenhängenden Schüben und in wiederkehrenden Loops. Möglicherweise sogar von der Mitte aus gestartet – gleichsam vom zweiten Akt eines Theaterstücks: Hat die ForscherIn einen Zugang zu welchen Zielgruppen?

Dann bestimmt rekursiv (!) dieser empirische Zugang die nun nur mehr formal ersten Glieder der Argumentationskette mit Problemstellung, Forschungsfragen etc.

 

Es wird noch schlimmer, denn solche Arbeiten können brillant sein und neue Erkenntnisse liefern! Nur hat die erwartete und ewig gleiche formale Darstellung des fiktiv-idealisierten Ablaufs einen Fake-Aspekt: So ist es NICHT gelaufen. Dieser Fake-Aspekt stellt einen wunden Punkt in Wissenschaften dar, in Gebieten, die sich der Wirklichkeit und Wahrheit verpflichtet sehen.

Denn es gilt nicht nur für Statistik: Die Ergebnisse sind eng mit dem Weg ihrer Erzeugung verbunden. Doch der real gegangene Weg existiert offiziell nicht mehr.

Wie bei einer fixen Sightseeing-Tour für Städtetouristen werden vieltausendmal immer die selben Stationen abgeklappert. Was daneben oder dahinter liegt, weiß man nicht.

Aufschluss über den tatsächlichen Weg der Forschung (und damit zu den Ergebnissen) kann erreicht werden Protokollieren der Forschungabläufe: das Forschungsprotokoll. In einigen wenigen Fächern wie etwa der Ethnologie ist dies ein Muss.

In vielen Fächern wird das Protokollieren von Annahmen, Ideen und Zwischenergebnissen in Veranstaltungen zu wissenschaftlichen Methoden zwar erwähnt, doch umgesetzt wird es kaum. KI wird dies fundamental verändern.

 

Richtig, konventionell-lineare Forschungsgliederungen haben den Vorteil, wichtige Stationen der Forschung kurz und prägnant zu vermitteln. Allerdings werden KI-Chatbots den Unbedingtheitsanspruch solcher gekünstelten Gliederungen relativieren. Die oft entscheidende Reihenfolge der Forschungsstationen und Überlegungen sollte nicht mehr verschwiegen werden.

Das Instrument des Forschungsprotokolls könnte in Zukunft in jeder Phase den Einsatz aller genutzten Werkzeuge (Literaturquellen, KI-Chatbots etc.) belegen.

 

Auf diese Weise würde das fundamentale wissenschaftliche Gütekriterium der "intersubjektiven Nachvollziehbarkeit" in den Geistes-, Sozial- und Kulturwissenschaften voll zum Tragen kommen.

Großartig, ein Hoch der KI!

 

 

16. Juni 2023