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Chat-GPT oder wie ein verflüssigtes soziotechnische System einen Akteur gebiert

 

 

 

 

Achtung, Triggerwarnung:Der folgende Text wird etwas theoretisch sein, er kann aber zu einem besseren Verständnis von strukturellen Prozessen und Verschiebungen in Gesellschaften führen. 😉 

Wie klar war sie noch vor wenigen Jahren: Die so genannte Schnittstelle, die Verbindung zwischen Mensch und Computer oder zwischen verschiedenen Programmen auf einem Computer oder zwischen verschiedenen Maschinen in einem Netzwerk.

Betrachten wir nur das Modell eines Mensch-Maschine-Systems: Aus einer nicht definierten Umwelt gibt es eine Eingabe (in der Regel in Form einer Aufgabe), die von einem Menschen an eine Maschine in formalisierter Sprache weitergeleitet wird.

Die Maschine erzeugt eine ebenso formalisierte Antwort/Lösung, die als Output in die Umwelt weitergegeben wird, wie in der Abbildung unten dargestellt.
Die Anfrage des Menschen an die Maschine musste in einer geeigneten und hochformal strengen Form stattfinden, sonst ‚versteht‘ die Maschine nichts, oder es gibt keinen Output oder noch schlimmer: einen falschen oder unbrauchbaren, der nicht als solcher erkannt wurde.

Die Schnittstellen zwischen den Programmen unterschiedlicher Computer hatten es in sich: Formate und Inhalte der Daten mussten adäquat sein. Dies bot im Lauf der letzten Jahrzehnte zig Millionen Programmierern, Designern und Systemanalytikern sichere und gut bezahlte Arbeitsstellen.

Der Funktion der Maschine ist die eines Werk-Zeuges. Werk, die Wortherkunft des ersten Teiles dieser Zusammensetzung von Werk deutet auf wirken, machen, flechten, hervorbringen oder fertigstellen (1). Auf diese Weise wird etwas wirksam und sogar wirklich. Die Wortherkunft von Zeug weist auf ein Gerät oder eine gesamte Ausrüstung. Ein oder mehrere Dinge, die durch Aufwand geschaffen, also gezeugt und geboren werden (2).

Die Zusammensetzung Werkzeug beinhaltet daher einen verketteten Ablauf: Etwas wird geschaffen, um in der Folge damit etwas Weiteres hervorzubringen. Werkzeug im gegenwärtigen Zusammenhang heißt:
Die Maschine wurde geschaffen, um damit durch die Hand des Menschen einen Input aus der Umgebung des Mensch-Maschinen-Systems zu einem Output umzuformen und wieder der Umgebung zuzuführen.

Ja, richtig, viele Worte für einen einfachen Vorgang. Diese modellhafte Auffassung vom Mensch-Maschinen-Schnittstellen-System ist simpel und auch nicht mehr als ein erster Verständnisschritt. Betrachtet man die hohe Zahl an täglich veröffentlichten Artikeln zu einzelnen KI-Themen, fragt man sich, was ist da grundsätzlich los?

Ein Schritt zurück könnte helfen, einen weiteren Horizont zu erhalten – aus einer Modellsicht des Geschehens heißt das vorerst: Welche Elemente oder Faktoren spielen in welchen Interaktionen eine Rolle? Oder: Welche Personen geben aufgrund der gesellschaftlichen Struktur und der entsprechenden Rollen die spezifische Aufgabe einem spezifischen Programm zur Lösung in Auftrag?

Statt des simplen Schnittstellen-Modells ist differenzierter vorzugehen. Vor zwei Generationen wurde das zentrale Arbeitsmodell eines soziotechnischen Systems entwickelt (4):


 

Es enthält zwei Teilsysteme, das soziale und das technische Teilsystem. Das technische beruht auf Interaktionen zwischen zwei Komponenten: der Aufgabe und der Technologie. Das soziale beruht auf Interaktionen zwischen Menschen in der jeweiligen vorstrukturierten Rolle. Wie die Pfeile symbolisieren, sind alle Teilkomponenten voneinander abhängig bzw. aufeinander bezogen.

Das soziale Teilsystem kreist um das Selbstverständnis von Personen und Gesellschaft, während im technischen die mechanisch-elektronische Weiterentwicklung im Fokus steht.

Spiegelt dieses nun komplexere Modell die gegenwärtige „Realität“ wider? Vorsicht ist aus wissenschaftstheoretischer Sicht bei den Begriffen Realität oder Wirklichkeit angebracht; sie sind trügerische Konzepte. Denn der berühmte Satz vom britischen Statistiker Box könnte richtig sein: „All models are wrong but some are useful“(3).

Box machte darauf aufmerksam, dass vorab getroffene Annahmen und Ausgangs-Axiome bei den Ergebnissen und deren Interpretationen explizit wieder zu berücksichtigen sind. Er geht aber erfreulicherweise davon aus, dass selbst „realitäts-falsche“ Modelle  zu robusten und nützlichen Ergebnissen führen können. Und dies nicht nur in der Statistik, sondern auch in anderen wissenschaftlichen Disziplinen.

 

Um trotz der rasant ablaufenden KI-Revolution die Modell-Brauchbarkeit zu erhalten, ist etwa zu fragen, welche Schwächen das angeführte soziotechnische Arbeitsmodell hat, die jetzt zum Tragen kommen. Eine zentrale Schwäche ist im Nichtbeachten der Zeit. Während das technische Teilsystem auf Kurzfristigkeit (Minuten, Tage, Wochen, Monate) angelegt ist, beruht das soziale Teilsystem auf Langfristigkeit (Jahre, Jahrzehnte). Gesellschaften und Rollen änderten sich aufgrund von Systembrüchen (Revolutionen, Kriege) oder traditionell in der Abfolge menschlicher Generationen.

Mit anderen Worten, die Brauchbarkeit des soziotechnischen Systemmodells wird durch die KI-Revolution gesenkt, wenn nicht gar zunichte gemacht. Beachtet man die Algorithmen und die Trainingsbasis der Sprachmodelle, sind nun Aufgabe und KI/maschinelles Lernen aufs Engste verknüpft und rekursiv in einem Schleifen-Modus eingespannt.

--> Die Grenzen haben sich aufgelöst. Input und Output sind normal zu lesende Texte geworden. All dies hat fundamentale und rasche Auswirkungen auf die Mitglieder und die Struktur der Gesellschaft.

Aus den fein säuberlich abgegrenzten Elementen und deren Interaktionen des soziotechnischen Systemmodells wird ein flüssiger Wirbel eines systemischen Gesamtgeschehens. Allerdings nun mit einem neuen Akteur! 

Beide Teilsysteme sind dynamisch und flüssig geworden. Im sozialen Teilsystem bahnt sich an: Berufsgruppen, welche bisher auf geistiger Routinearbeit beruhte, werde in ihrer Bedeutung abgewertet werden. 

Klar abgegrenzte Berufe und Fertigkeiten werden seltener die Schlüsselkompetenz für eine erfüllende und erfolgreiche Existenz werden. Dies wird sowohl für Einzelpersonen, sozial institutionalisierte Gruppierungen als auch für Gesamtgesellschaften im Wettbewerb muntereinander gelten.

 

Ein gekonnter Umgang mit KI, dem Verstehen dieses neuen Akteurs im Geschehen wird zu einer Schlüsselkompetenz im beruflichen oder privaten Leben. Es dreht sich nun darum, ob der menschliche Akteur den KI-Akteur akzeptiert und vor allem die jeweiligen Stärken und Schwächen aufgrund der fachspezifischen Trainingsdaten und Algorithmen kennt, entsprechend nutzt oder korrigiert. 

 

(1) Kluge (2011). Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 25. Auflage. Berlin: Walter de Gruyter S. 991
(2) Ebd., Kluge, (2011), S. 1008
(3) Sydow, J. (1985). Der soziotechnische Ansatz der Arbeits- und Organisationsgestaltung: Darstellung, Kritik, Weiterentwicklung, Frankfurt am Main: Campus, S. 29
(4) Box, G. (1979). Robustness in the Strategy of Scientific Model Building. In: Launer, R./Wilkinson, G. (ed.): Robustness in Statistics. S. 202) 

27. Juni 2023 

PS: Erstantworten von KI sind zumeist allgemein und tendenziell oberflächlich. Zu empfehlen ist daher, die KI als eigenständigen Akteur bestenfalls in der Rolle einer Sparringpartnerin anzusehen. Daher mit KI in einen Dialog für mehr Tiefe und zusätzlichen Optionen einzusteigen und – wie nach Brainstorming-Sitzungen üblich – die schlechten "erstürmten Blüten" ausmisten.

PPS: Gemäß der Pinzipal-Agent-Theorie herrscht eine grundsätzlich Macht-Asymmetrie. Der Mensch ist Auftraggeber, die KI ist die ausführende Agentin, auch wenn aus Informationssicht die KI über den Zugriff zu einem um Größenordnung höheren quantitativen Informationspool hat. Das qualitative Bewerten bleibt jedoch dem Prinzipal!