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Jus/Jura –
der Sprung aus der Vergangenheit in die Zukunft

 

 

 

Das Recht ist überwiegend gekennzeichnet durch die Anwendung der Vergangenheit auf die Gegenwart.

Gegenwärtige Sachverhalte werden aufgrund von Normen bewertet, die in der Vergangenheit entwickelt und kodifiziert wurden. Raub oder Diebstahl genauso wie Verleumdungen oder körperliche Verletzungen werden bestraft. Sowohl die Gesetzesinhalte als auch das Ausmaß der Sanktionen hängen von den gesellschaftlichen Auffassungen der vorhergehenden Generationen ab. Änderungen dauern lange. Nur mühsam wurde etwa aus der Vergewaltigung in der Ehe ein strafbares Delikt. 

Die rechtliche Bewertung des Umgangs mit anderen Menschen, Lebewesen und Dingen hat daher eine rückwärtsgewandte, bewahrende, also konservative Schlagseite. Eventuell passen Richter:innen in ihren Entscheidungen dies den gegenwärtigen (zum Teil geänderten) gesellschaftlichen Auffassungen an, soweit es in ihrem Ermessen liegt. Dies ist in der Struktur des westlichen Rechtssystems und somit auch in der westlichen Rechtsphilosophie angelegt. Es geht konzeptuell nicht anders.

Das sizilianische Taormina im Jahr 2000 als Symbol für liebliche Vergangenheit

 

Oder doch?

Die Vorreiter in der Umsetzung von generativer KI sind derzeit Vertreterinnen von angewandten Rechtsdisziplinen! Man glaubt es auf den ersten Blick kaum. Urheberrecht, Arbeitsrecht, Baurecht, Privatrecht wie Vertrags-, Erb- oder Familienrecht, Medizinrecht, Versicherungsrecht, Handelsrecht, Verkehrsrecht,  Umweltrecht etc. All diese anwendenden Rechtsfächer haben das unmittelbare gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben im Fokus. Sie regeln nicht nur unser Leben, sondern auch dessen spezifische Details1 2.

 

Gerade noch überwiegend vergangenheitsorientiert, agieren diese Rechtsdisziplinen plötzlich an vorderster Front in der Handhabung und (wenigstens teilweisen) Disziplinierung von KI. Die Stellungnahmen von KI-Expertinnen aus dem Recht sowie anlaufende Projekte haben Hand und Fuß. Sie zeigen, wie KI in der Gegenwart und in naher Zukunft anwendbar gemacht werden kann. Es haben sich europaweite Rechtsnetzwerke gebildet, welche Projekte unterstützen, die die Umsetzungs-Potenziale von KI bewerten.3 Der reale Druck zu reagieren ist in diesen Handlungsfeldern sehr groß.

 

Wo bleiben die sprachwissenschaftlichen Fächer?

Ein erster subjektiver Eindruck drängt sich auf, dass Vertreterinnen von geistes- und kulturwissenschaftlichen Fächern geradezu paralysiert auf diese KI-Revolution blicken. Man hört von ihnen kaum, sie scheinen wenig dazu zu forschen oder zu diskutieren. Wo sich doch gerade linguistische Fächer im Zentrum des genKI-Geschehens befinden. Denn sprachwissenschaftliche Fächer zeigen auf, wie Sprache uns Menschen formt und wie Menschen Sprache nützen, um die Welt zu gestalten.

Schnelle, wenn auch oberflächliche Recherchen zeigen, dass hier durchaus veröffentlicht wird. Jedoch haben diese Veröffentlichungen nicht annähernd jene unmittelbare pragmatische Brisanz, wie sie rechtliche Bewertungen haben.

 

Schrift und Recht

Bei näherer Betrachtung wird einiges klarer. Die geschriebene Sprache fungiert als universale Basis von Recht. An ihr hängt alles, inklusive der daraus folgenden Bestimmungen und Konsequenzen für unser Leben. KI kann Sprache sehr gut analysieren und gemäß den Anforderungen wiedergeben. Dadurch ist sie im Handumdrehen zu einem innovativen Instrument geworden, das die Rechtsbasis im Kern betrifft.

Das Durcharbeiten zahlreicher Aktenordner in Gerichtsverfahren kostet Zeit, Mühe und Geld. KI reduziert das und beschleunigt diese Vorgänge. Aber zu welchem Preis? Anfang 2023, also bald nach Markteinführung von ChatGPT im November 2022, hatten US-amerikanische Anwälte mit Präzedenzfällen argumentiert, die es so nie gegeben hatte. KI ist eben eine Wahrscheinlichkeits- und keine Wahrheitsmaschine. Diese Anwälte scheiterten damit kläglich, boten aber Lehrreiches zum Umgang mit KI.

 

Wie geht’s weiter?

Im Frühjahr 2024 wurde vom EU-Parlament ein Gesetz über die künstliche Intelligenz verabschiedet4. Demnach sollen Risiken beschränkt werden durch zu konkretisierende Leitlinien einer  KI-Verordnung. Im Gegensatz etwa zu den Praktiken in China sollen die Risiken Gefahren reduzieren helfen, welche durch biometrische Fernidentifizierungen oder emotionale Erkennung entstehen. Es geht hierbei um den beruflichen Einsatz durch natürliche und juristische Personen wie Organisationen und Institutionen aller Art, nicht jedoch um Endnutzer.

Der größte Teil des hunderte Seiten umfassenden Gesetzestextes bezieht sich auf Hoch-Risiko-Systeme. Diese sind besonders streng zu regulieren. Im Anhang III werden hierzu acht Bereiche aufgeführt. Auffallend ist, dass zwei (!) dieser acht Bereiche sich auf das Recht beziehen: Strafverfolgung und Rechtspflege. 

 

Fazit: Rechtsbereiche sind gegenwärtig sowohl in der europäischen Gesetzgebung als auch in den nationalen Alltagsanwendungen jene Treiber, die an vorderster Front KI handhabbar und sicherer machen.

12. Juni 2024

 

1 Als Beispiel: Durantaye, K. (2024). Nutzung urheberrechtlich geschützter Inhalte zum Training generativer künstlicher Intelligenz – ein Lagebericht. AfP, 55(1), 9-22. https://doi.org/10.9785/afp-2024-550103

2 Als Beispiel: Schwartmann, R. (2024). Anwendungsszenarien und Rechtsrahmen für den Einsatz künstlicher Intelligenz im Journalismus. AfP, 55(1), 1-9. https://doi.org/10.9785/afp-2024-550102

3 Als Beispiel: Future Law (12.06.2024). Legal Tech Netzwerk. Künstliche Intelligenz – Einordnung & Evaluierung von Potentialen. https://future-law.eu/ki-projekte-in-legal/

4 Europäisches Parlament P9_TA(2024)0138. Gesetz über künstliche Intelligenz. Legislative Entschließung des Europäischen Parlaments vom 13. März 2024 zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung harmonisierter Vorschriften für künstliche Intelligenz (Gesetz über künstliche Intelligenz) und zur Änderung bestimmter Rechtsakte der Union (COM(2021)0206 – C9-0146/2021 – 2021/0106(COD))