Wissenschaftstheorie 5: Die stoische Philosophie
Sei ein Stoiker – wie antike Philosophie im KI-Zeitalter hilft.
Was bei uns als „stoisch“ gilt – und warum das ein Missverständnis ist.
In Italien oder Frankreich bedeutet stoico/stoïque stark, souverän, charakterfest und mutig. Im romanischen Kulturraum wird dem Stoiker innere Reife und Würde zugeschrieben. Vor zweitausend Jahren zogen sowohl in Griechenland als auch im römischen Reich Sittenprediger durchs Land, die das stoische Gedankengut als vieldimensionale Lebenskunst propagierten.
Ganz anders im deutschen und englischen Sprachraum: Stoisch steht hier für leidensfähig, distanziert und teilnahmslos. Die britische stiff upper lip der oberen Schichten steht sinnbildlich für eine aufgesetzte Emotionslosigkeit. Stoisch zu sein, reduzierte sich auf ein marginalisiertes Buchwissen. Intellektuelle hatten im Spätmittelalter antike stoische Schriften einseitig übersetzt.
Die ursprüngliche stoische Philosophie, wie sie sich jetzt noch in der italienischen und französischen Alltagssprache widerspiegelt, war alles andere als kalt und gefühllos. Sie ist Lebenskunst, ein Weg zu Gelassenheit und Lebensfreude.
Lebenskunst aus Zeiten des Umbruchs – für Zeiten des Umbruchs.
Die Stoa entstand in Athen – nach dem Fall der attischen Demokratie und während der Umbrüche des hellenistischen Zeitalters. Die zentrale Einsicht wird bereits im ersten Satz eines antiken Handbuchs formuliert:
„Es gibt Dinge, die in unserer Macht stehen, und andere, die es nicht tun.“
(Epiktet, Enchiridion, Kap. 1)
Was sich nicht ändern lässt, sollte uns nicht aus der Fassung bringen. Energie wird dafür genutzt, was wir beeinflussen können. Das ist keine Flucht, sondern psychologisch kluge Selbststeuerung – gerade in schwierigen Zeiten. So wird man resilient und widerstandsfähig.
Stoiker im klassischen Sinn lehnen exzessive (!) Emotionen ab, jedoch nicht das Fühlen an sich. „Normale“ Gefühle sind erlaubt und oft hilfreich. Der Mensch soll nicht kalt, sondern klar, weltoffen und anpassungsfähig sein. Das hilft, in Harmonie mit der Natur, den Menschen und dem eigenen Körper zu leben.
Diese Haltung hat moderne Spuren hinterlassen, etwa in der Kognitiven Verhaltenstherapie (KVT), die gezielt mit Gedanken, Bewertungen und Gefühlen arbeitet. Auch in asiatischen philosophischen Systemen wie dem Konfuzianismus oder dem religionsphilosophischen Buddhismus finden sich vergleichbare Ideen.
Lachende Buddhas in einer Straßenwerkstätte in Myanmar, 2002
Was hat das mit KI zu tun? Sehr viel.
Wir leben 2025, in einer Zeit globaler Umbrüche, nicht nur politisch, sondern auch technologisch. Künstliche Intelligenz verändert unser Denken, Schreiben, Arbeiten und Kommunizieren. Stoische Prinzipien bieten einen Weg, mit dieser neuen Komplexität umzugehen:
- Gelassen bleiben, wenn dich Technik zu überfordern droht;
- den Fokus behalten, wenn dich Informationen überfluten;
- Lernfreude kultivieren, statt sich erschlagen zu fühlen und daher aufzugeben.
Seneca lobt die Lernbegierde. Er schreibt:
„Man darf weder beliebige Teile herausgreifen noch gierig das Ganze verschlingen wollen […] Die Last muss mit unseren Kräften in richtigem Verhältnis stehen.“
(Briefe an Lucilius, 108)
Übertragen auf KI heißt das: Wer Texte generieren lässt, sollte das Thema ansatzweise durchdrungen haben. Wer blind übernimmt, wird fremdbestimmt. Wer fragt, wer prüft, wer auswählt, der bleibt souverän.
Fazit: Sei ein Neo-Stoico!
Eine italienisch lebendige stoische Haltung im KI-Zeitalter heißt:
- Sich ein bisschen freuen, dass es die KI überhaupt gibt;
- wissen wollen, statt Infos bloß konsumieren;
- gelassen handeln, auch wenn die Technik überfordert;
- nicht alles glauben, was plausibel klingt
Statt die KI als "allwissenden Aristoteles" zu betrachten, sollten wir das Gespräch mit ihr führen wie ein neugieriger, aber kritischer Stoiker: offen, ruhig und bereit zur Prüfung.
22. Mai 2025
Quellen:
Epiktet, The Enchiridion, Kap. 1, Project Gutenberg
Seneca, Briefe an Lucilius, Brief 108, in: Philosophische Schriften IV, Hamburg: Meiner, 1993
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