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Hurrah - wir sind Hindus, hurrah - wir sind Franzosen, hurrah - wir sind Rapid-Anhänger, hurrah - wir sind .........!!

Menschen lebten Jahrmillionen in kleinen Gruppen. Keiner unserer Vorfahren sah mehr als fünfzig andere Menschen gleichzeitig. Unser vererbtes Fühlen und Handeln spiegelt diese Vergangenheit. Um so verblüffender, in welch hoher Zahl Menschen, dieses Kleingruppenlebewesen, derzeit miteinander leben. Wie schafft es nun der moderne Mensch, Gemeinschaften von hunderttausenden und Millionen Personen zu organisieren?

 

Vielleicht hilft ein Vergleich zu einem Volks, das sich ebenfalls in großer Zahl organisiert: den Ameisen. Wie organisieren sich die? Ameisen scheiden Duftstoffe aus, die signalisieren, was zu tun ist. Wenn wir bei diesem Vergleich bleiben, welche ‚Duftstoffe’ besitzt oder scheidet der moderne Mensch aus? Woraus besteht der Zusammenhalt, gewissermaßen der Leim, der soziale Leitfaden, welcher Institutionen und Gesellschaften von uns Menschen zusammenhält?

 

Nehmen wir jenes Organ, was wir in erheblicher Größe besitzen: Das Gehirn. Was kann das? Zum Beispiel: Wir sind extrem gut im Imaginieren. Sich etwas vorzustellen, ist das jüngste und eines der besten Werkzeuge, welche wir evolutionär entwickelt haben. Also: Wir können uns etwas (sogar Nichtreales) gut vorstellen. Kombinieren wir dies nun mit der natürlichen menschlichen Neigung, im Rahmen von kleinen Gruppen zu kooperieren. Unsere Vorfahren koalierten auch mit nicht verwandten Personen. Bekannt und vertraut mussten sie sein. Das war das Wichtigste.

 

Es schaut aus, als reichen zwei - evolutionär entstandene - Instrumente aus, riesige 'Menschentrauben' entstehen zu lassen: (1) Sich nicht Vorhandenes vorstellen zu können und (2) zu kooperieren. Voila und schon stiefeln sieben Milliarden Menschen auf unserer Erde herum. Organisiert in Ultrariesengruppierungen wie 1,4 Milliarden Chinesen, mehr als einer Milliarde Christen, einer Milliarde Inder und so weiter.

 

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Gemeinsame Vorstellungen erzeugen Gefühle des Zusammengehörens. Diese Gefühle entstehen in sehr großen Verbänden (obwohl die Menschen einander persönlich nicht kennen) auch dann, wenn sie gleich denken und fühlen. Diese Gefühle entstehen, wenn in der Folge alle die gleichen Überzeugungen und das gleiche Ziel haben und dementsprechend sehr ähnlich handeln. Alle Teilnehmer verfügen über gleiche Zeichen, Rituale, Werte.

Dieses Gleiche im Denken und Verhalten schafft reale Strukturen. Man nennt diese gemeinsamen Vorstellungen Nationalismus, Faschismus, Kommunismus, Neoliberalismus,.... oder traditionelle Religionen. Mit dem Unterschied, dass religiöse Institutionen erfahrener und gewitzter im Bewahren dieser Fiktionen sind als die neuen Ideologien der letzten zwei Jahrhunderte. Nicht umsonst überleben Religionen Jahrtausende. In ihren extremen Ausbildungen sind alls diese gemeinsam erzeugten Vorstellungen Wahngebilde - allerdings mit realen Auswirkungen in der realen Welt.

 

 

Myanmar: Andacht in einem chinesischen Tempel

 

Wie funktionieren diese Vorstellungen auf der individuellen Ebene? Was haben sie dort für Auswirkungen?

 

Der Einzelne findet Schutz im Verband. Er wird mächtig. Mittels der sozialen Ultragroßgruppe schlägt er jeden Solokämpfer aus dem Feld. Er braucht sich weiters um vieles nicht zu kümmern. Wozu denken -  alles ist vorgekaut. Und was alle meinen, kann doch nur richtig sein! So entsteht ein persönlicher Sinn des Daseins.

There is no free lunch in the universe - die eben genannten Vorteile enthalten unvermeidlich Nachteile. Die gedachten Inhalte, worum sich soziale Ultragroßverbände bilden, sind im Grunde unbedeutend. Vielmehr gilt sogar: Je absurder die Fiktion, umso besser. Je jenseitiger, umso klebriger der Leim und umso stärker der soziale Leitfaden. Je widersinniger, umso stärker wirkt der zwischenmenschliche Zusammenhalt. Folgen: Warum nur einen Tod sterben? Besser viele Tode sterben nach vielen Leben wie im  hinduistischen Indien. Warum nur von den irdischen Leiden erlöst werden wollen wie im christlichen Abendland? Nein, endlich als buddhistischer Erleuchteter im Nichts zu verschwinden, ist das Wahre.

 

So einfach agiert im Grunde das menschliche Kleingruppenwesen. So einfach entstehen daraus weltbeherrschende Großformationen. Ob Nationalsozialismus oder Monarchismus ... wir schwimmen emotional mit. Und leiten ein großes Stück unsere persönliche Identität davon ab. Der Kreis schließt sich. Das Individuum glaubt an das fiktive Große – und das Große spendet dem Einzelnen Identität.


Erwirbt die Glaubensvorstellung ein Monopol, kippt sie ins Negative: Inquisition im Mittelalter, afghanische Taliban in den Neunzigern oder schamlos gierige Spitzenmanager in den letzten Jahren. Die Ideologie frisst ihre Kinder. Und beschädigt langfristig sich selbst. So arbeitet Evolution: Ein oder zwei Schritte vor - ein oder zwei oder viel Schritte zurück. Wir Patchworkwesen - welche selber aus Billionen von Miniwesen bestehen - bilden ja selbst riesige soziale Zusammenschlüsse. Daraus ergibt sich: Um harmonisch und dauerhaft die nächste Stufe der sozialen Organisation zu erreichen, müssen wir noch einige Millionen Jahre üben.

Reinhard Neumeier, April 2009