Himmel bewahre, über Sex nachzudenken, sich direkt mit dem prallen Leben jenseits des Schreibtisches befassen – nein, igitt! Was Gescheites über die komplizierte Gefühlsmixtur Liebe zu schreiben – ja, gerne; liebend gerne! Das ist der unverblümte Eindruck, wenn man die Begriffe Sex oder Liebe in philosophischen Wörterbüchern, Enzyklopädien und Web sucht (siehe Kasten).
Der Suchende findet überdies Geschlechtscharakteristik, Geschlechterverhältnis oder Frauenemanzipation. Nur - über männliche oder weibliche Machtansprüche nachzudenken, ist löblich, gleichzeitig aber eine Themenverfehlung. Hier wird das Dach eines Hauses gebaut, bevor noch Fundament und Wände stehen. Alles ist abstrakt formuliert als lebten die Autoren auf einem anderen Stern. Ich wette, Mann und Frau gewöhnen sich beim Lesen solcher Sätze ihre Geschlechtsidentität ab.
Suchende stoßen weiters auf breit ausgewalzte Nebenstichwörter wie Nächstenliebe, Vaterlandsliebe oder Gottesliebe. Alles überzogene, in der historischen Gesamtwirkung vielfach unheilvolle Konzepte. Die zu Liebe und Begehren (ja, auch das kommt vor) festgehaltenen Gedanken lassen einen kalt und unberührt. Meist beziehen sie sich ohnehin auf die Vergangenheit.
SEX und LIEBE in der PHILOSOPHIE
Fazit: Die Trefferzahl für 'Philosophie und Liebe' sind ein Vielfaches von 'Philosophie und Sex'. Diese Unausgewogenheit gilt besonders für den englischsprachigen Raum. Deutschsprachige Philosophen scheinen etwas weniger Scheuklappen zu haben. Suche durchgeführt am 9. Jänner 2014 |
Pulsierendes Leben hingegen will Sex. Diese Tätigkeit ist so elementar, dass sie früh erfunden wurde: Vor zwei Milliarden Jahren, in der Form einfacher Transfers von Proteinen. Akteure waren Bakterien - Prokaryoten und erste Eukaryoten. DNA-Segmente wurden vom sendenden Bakterium an das empfangende Bakterium übermittelt. Wahrscheinlich diente diese frühe Form von Sex dazu, kaputte Stellen in der Erbinformation zu reparieren. Sex startete somit als Reparaturmechanismus. Diese Form gibt es nach wie vor.
Ein weiter entwickelter Sex kann mehr. Er verbessert den Bauplan des Lebewesens. Voll entwickelter Sex macht Lebewesen tauglicher für diese Welt. Reifen Sex gibt es seit einer Milliarde Jahren. Ohne diese voll entwickelten gäbe es weder griechische Philosophen noch christliche Kirchenväter!
Obwohl Philosophen richtigerweise überall ihre Nase hineinstecken, tun sie es hier kaum. Beim Sex schauen sie in der Regel weg. Ist ihnen das zu animalisch? Oder stoßen wir hier auf antrainierte Reflexe aus jener Zeit, als die Philosophie eineinhalbtausend Jahre Sklave der christlichen Theologie war. Diese reservierte Sex nur für die allzweijährliche Reproduktion im Ehebett.
Jedes Übergehen behindert menschliches Verstehen. Das Ziel, weise zu werden, verschwindet so aus dem Horizont der Freunde der Weisheit (philosophia, latinisiert und wortwörtlich übersetzt). Doch halt, das tragende erste Wort kann nicht nur mit Liebe übersetzt werden: philos vermittelt semantisch auch den Impuls Freude. Freude, eine der universellen, bei allen Menschen feststellbaren Basisgefühle, wie Psychologen in den letzten Jahren erkannt haben.
Philosophia bedeutet also auch Freude an der Weisheit. Freude, in diesem Fall die Freude am Anderen, die Freude an der Sexualität, die Freude an der nahest möglichen Begegnung zwischen zwei Lebewesen. Emotionaler und intimer geht es nicht mehr. Eine solche Begegnung ist sicher intensiver als eine heiße Diskussion im coolen Modus von Denkern - separiert und zurückgelehnt in ihren Fauteuils.
Reinhard Neumeier, Jänner 2014
Da und dort gibt es doch etwas Lesenswertes zum Thema: Botton, Alain de. Wie man richtig an Sex denkt (2012), Kleine Philosophie der Lebenskunst. The School of Life. Random House / Kailasch Verlag