Welch 'wunderbare' biologische Innovation: Eukaryoten-Vielzeller hatten die eigene Hinrichtung erfunden. Sie sterben nach einer gewissen Zeit anstatt relativ unbegrenzt so lang zu leben wie nur möglich! Ein systemischer Entwicklungsvorteil aus Sicht vieler Generationen führte sie dazu, diese Innovation einzuführen. Ohne Tod gäbe uns Heutige nicht. Nun, das ist auch nur ein kleiner Trost.
Wie gehen wir sterblich gewordenen Vielzeller mit dem programmierten Ende um? Hunderte von Millionen Jahre hatte das nun eingebaute Ableben vermutlich keine bis wenig Auswirkungen auf das jeweilige 'Selbst' großer Vielzeller. Das Bewusstsein war vermutlich noch zu wenig komplex und ausgebaut. Wenn uns auch zu denken geben sollte, wie Affen oder Elefanten, aber auch bestimmte Vogelarten zu trauern scheinen, wenn ein Nahestehender zu Tode kommt.
Dem Neandertaler, von dem wir einige Prozent in unserem europäischen und asiatischen Erbgut haben, dürfte sein zukünftiger Tod bereits einsichtig geworden sein, Grabbeigaben lassen das vermuten. Unbestritten ist jedoch, dass wir, der Homo sapiens, von unserem eigenen Ende wissen.
Der Tod kommt, ob morgen, nächstes Jahr oder in dreißig Jahren. Wann, das wissen wir selten, aber kommen wird er. Welch grausame Einsicht zwingt uns die Evolution auf! Wie reagieren wir nun wissende Lebewesen – hadern, weinen, schreien oder durcken und verkriechen? Suchen wir Schuldige, Trost oder Auswege?
Die Reaktionen unserer frühen Vorfahren kennen wir nicht. Genauer beschriebene Ideen zur Bewältigung des Endes der Existenz kennen wir seit ein paar tausend Jahren. Die Ideen sind eingraviert als Zeichen auf Felsen, in Tontafeln, mit Tinte geschrieben auf Pergamentrollen oder in Büchern. Die Ideen lassen zwei Strategien erkennen, die unterschiedlicher nicht sein könnten: (A) Akzeptanz oder (B) Verleugnung des Todes.
A) Strategie der Akzeptanz
Natürlich fühlt, denkt und handelt jeder anders. Wem es trotz überwältigender Verzweiflung gelingt, nicht wegzusehen, sondern sein Leben als einziges aufzufassen, wird das Leben auskosten wollen. Nämlich SEIN Leben auskosten, SEINE einzige Gelegenheit, hier zu sein.
Konsequenterweise wird er oder sie sich bemühen, die Tage des Leben bewusst und wertschätzend zu verbringen. Die Höhen des Lebens werden in vollen Zügen genossem, die Tiefen als unvermeidbare Elemente des Lebens akzeptieren und zu bewältigen versuchen. All das wird nicht immer gelingen, dennoch gilt als paradoxes Resultat dieser Strategie:
--> Die Akzeptanz des Todes führt zur Aufwertung des Lebens.
B) Strategie der Verleugnung
Verleugnen ist so naheliegend, denn das elementarste Kennzeichen des Lebens ist, weiterbestehen zu wollen. Mikroben suchen Essbares und flüchten vor Gefahr. Obwohl man ihnen weder Bewusstsein noch Geist in unserem Sinn zuordnet, zeigen sie diesen Ur-'Willen'.
Intensiv spüren auch wir Billionenzeller diesen Lebenswillen. Vielleicht kommt sogar bei uns dieser Lebenswillen in mehr Aspekten zum Ausdruck – wir haben Bewusstsein, Gefühle und Verstand als zusätzliche Werkzeuge zur Behauptung in der Welt entwickelt. Diese mentalen Werkzeuge aber (der Verstand insbesondere) haben es in sich. Sie sind Allzweckwaffen und können sie auch gegen uns selbst nutzen - zum Beispiel, um den tiefen Gefühlen der Verzweiflung auszuweichen, um trickreich die Endgültigkeit des Todes zu leugnen.
Kreativität besitzt der sich seiner selbst bewusst gewordene Billionenzeller ausreichend. So ist es naheliegend, dass er neue Welten imaginiert: Oberwelten, Unterwelten, Himmel, Hölle, ein Jenseits, ... Der hoch komplexe Riesenzeller betäubt sich mit Gedanken, dass sie oder er (sein Selbst, ihr Ich, seine Seele, ...) in einer der imaginierten Welten weiterbestehen kann oder gar in der realen Welt wiedergeboren wird.
Unsere Kinder sind von klein auf der süßen Betäubung dieser Imaginationen ausgesetzt. Die Erwachsenen erzählen, jeder hätte einen Schutzengel, es gebe ein Christkind, das Geschenke unter den Weihnachtsbaum legt, und gute Taten würden im Himmel belohnt. Den Kindern wird zu Ostern Auferstehung von den Toten anhand eines Beispiels nahegebracht und sie lesen auf manchen Grabsteinen vom ewigen Leben.
Jedes Medikament hat zusätzliche Wirkungen, verniedlich Nebenwirkungen genannt. Klar, dass die Imaginationen auf das Leben zurück wirken. Je stärker das Medikament, in diesem Fall die Betäubung, umso heftiger die Nachwirkungen. Der Mensch verändert sein Handeln, um als gedachten Lohn nach dem Tod zu erhalten. Und verdrängt evolutionär begründete sinnliche und geistige Bedürfnisse. Sie könnten ja vom Teufel als Versuchung gesandt sein, wie es im westlichen Kulturkreis Eineinhalbjahrtausende galt Sex? Pfui! Freude? Eine Sünde. Schicksalsschläge werden als bedeutungsvoll im Sinne der Imaginationen gedeutet, denn das gegenwärtige Leben zählt wenig. Das gewünschte und klare Resultat dieser Strategie:
--> Die Verleugnung des Todes führt zur Abwertung des Lebens.
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Reinhard Neumeier
Juli 2019