Ob in Kultur oder in Religion, ob in Philosophie, Psychologie oder in Pädagogik - Antworten zur Frage, wer wir Menschen sind, starten mit dem scheinbar Offensichtlichen: den Sinnen - mit den Augen, Ohren und Händen. Wie Menschen sehen, was sie sagen und was ihre Hände schaffen. Alle überkommenen Antworten zum Menschenbild gehen von den Sinnen aus. So natürlich und ebenso naiv. 

 

Die tradierten Antworten waren unterschiedlich. Die Antworten führten nicht selten zu aggressiven Weltanschauungen. Der Mensch sei von Grund auf böse und habe eine Schuld abzutragen; oder er sei ein Wesen, das nur seiner Lust fröne; ... . Eines aber hatten alle überkommenen Menschenbilder gemeinsam: Jeder Mensch sei eine Einheit.

Die elementarste Form des Menschseins sei der unteilbare (= in-dividuelle) Mensch. Der Einzelne stelle das Fundament dar für das Bewusstsein. Darunter gibt's nichts, geht nichts. Gut, jeder Mensch fängt klein an, sehr klein sogar. Aber er wächst und wird mal ein Erwachsener. Voilà – nun ist ein Mensch da.

 

Wiener Türkenschanzpark

  

So einsichtig diese Auffassung für viele tausende Jahre gewesen war, sie trägt nicht mehr. Zu viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse erzwingen eine Revision. Den meisten Weltanschauungen ergeht es derzeit wie der Physik am Ende des 19. Jahrhunderts. Diese befasst sich mit dem Raum, den Bäumen und Straßen, den Steinen und den Schwalben am Himmel. Diesen Raum und die damit verbundene kontinuierliche Zeit verstehen wir intuitiv. 

 

Relativitätstheorie und Quantenphysik jedoch erschütterten diese Idylle. Nichts war im 20. Jahrhundert mehr wie vorher. Sowohl die ganz große Welt (die der Astronomie und Kosmologie) als auch die ganz kleine Welt (die der Quanten) funktionieren nach anderen Prinzipien als unsere mittlere Welt, in der wir leben. In der großen Welt krümmen sich Raum und Zeit, kann Zeit schneller oder langsamer fließen. Unverständlich, oder? Jedoch erst unter Einbezug der Relativitätstheorie funktionieren unsere alltäglichen Navigationssysteme im Auto oder am Handy.

 

Die kleine Welt birgt noch Schaurigeres. In der Quantenwelt kann der Ort eines Elektrons nicht exakt bestimmt werden. Ebenso kann es gleichzeitig nach links und nach rechts fliegen. Verrückt – aus unserer Sicht spukt es in dieser Welt mehr als in allen Harry-Potter-Filmen zusammen. Irgendwie muss es im Allerinnersten unserer Welt aber so sein, denn nur aufgrund der Quantenphysik funktionieren Handys oder entstehen komplexe biochemische Moleküle.

 

Wie sieht es mit den biologischen Erkenntnissen der letzten Jahrzehnte aus? Wir Menschen sollen Vielzeller sein, aufgebaut aus Milliarden von Eukaryoten? Unsere Augen und Ohren, Knochen und Muskeln sind nur spezialisierte Gruppen von Mini-Lebewesen?Lächerlich! Alles in uns wehrt sich gegen die Vorstellung, ein komplexes Aggregat unzählig vieler kleiner Mikroben zu sein. Und wenn es stimmen sollte, dann habe es doch keine Auswirkungen auf mein Dasein. 

 

Doch hat es! Im Alltag jedoch werden wir mit diesen Vorstellungen kaum konfrontiert. Ein bisschen Hygiene, ein bisschen Händewaschen. Manchmal aber laufen wir mit dem Ignorieren unserer Herkunft in Sackgassen und müssen umkehren. Wenn sich Krankheiten ausbreiten wie Pest, Tuberkulose, Milzbrand oder Aids; wenn der Arzt eine Autoimmunerkrankung feststellt; wenn das eigene Immunsystems gegen einen selbst kämpft; wenn sich einige Zellen vom Gesamtorganismus gelöst haben und nun eigenständig leben.

Krebs. Dann zwingen uns die Umstände genau hinzusehen, wer und was wir Menschen sind, und wie wir aus dem Schlamassel – mit viel Know-how und noch mehr Glück - wieder herauskommen. 

 

Die Erkenntnis aus solchen Grenzsituationen: Wir sind verwundbare Organismen und ändern uns laufend. Das Bild vom Menschen als erste Einheit, als geschlossene Psyche, als unzerteilbare, immer gleich bleibende Seele ist antiquiertes Denken. Obwohl westliche Menschen das 21. Jahrhundert schreiben - denken die meisten Menschen, als trieben sie nach wie vor Schafe und Ziegen auf die Weide.

 

Reinhard Neumeier, Oktober 2013