Wissenschaftstheorie 4: Die Akteur-Netzwerk-Theorie
Wenn Maschinen mitreden: Was die Akteur-Netzwerk-Theorie über die KI verrät
Die Sonderstellung des Menschen wankt. In einer zunehmend digitalisierten Welt ist das Handeln nicht mehr allein dem Menschen vorbehalten. Technologien wie Künstliche Intelligenz (KI) treten als eigenständige Kraft auf – oder präziser: als Teil eines hybriden Akteurs, der Mensch und Maschine kombiniert.
Die Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT), entwickelt unter anderem von Bruno Latour, bietet dafür ein spannendes Erklärungsmuster: Soziales entsteht nicht allein durch Menschen, sondern in Netzwerken verschiedenartiger Elemente, menschlicher und nichtmenschlicher. Der Einzelne handelt selten isoliert, sondern meist in einem dichten Geflecht aus Dingen, Konzepten, Menschen und Institutionen.
Was die Akteur-Netzwerk-Theorie erklärt
Zentrale Begriffe der ANT sind Akteur, Netzwerk und Übersetzung. Letztere meint: Informationen und Wirkungen werden durch verschiedene Vermittler ständig transformiert. In Bezug auf KI bedeutet das: Der Mensch, der eine Frage an einen Chatbot stellt und die Antwort nutzt, ist nicht mehr ein autonomes Subjekt, sondern Teil eines dynamischen soziotechnischen Netzwerks.
KI als Mittler – aber kein neutraler
Die KI ist dabei nicht einfach ein Werkzeug, das Daten weiterreicht. Sie verändert die Daten. Ähnlich wie eine Axt einen Holzblock zerteilt und aus demselben Material Brennholz macht, zerlegt die KI Daten in kleinste Einheiten (Tokens) und formt daraus neue Antworten. Doch sie entscheidet mit – durch Trainingsdaten, Modelle, Algorithmen. Neutral ist sie nicht.
Trotz ihrer Leistung bleibt die KI eine Black Box. Wie sie genau aus Daten Bedeutungen formt, ist nicht nachvollziehbar. Selbst die Entwickler:innen wissen oft nicht, wie ein Modell zu einem bestimmten Ergebnis kommt. Die Übersetzung von Eingabe zu Ausgabe ist nicht transparent.
Jede Abfrage schafft ein neues Netzwerk
Künstliche Intelligenz verhält sich wie ein Chamäleon: Sie verändert ihr Verhalten mit jedem Prompt, jeder Modifikation, jeder neuen Datengrundlage. Auch das Einbeziehen aktueller Internetdaten führt zu wechselnden Ergebnissen. Jedes Mal, wenn eine KI gefragt wird, entsteht ein neues Netzwerk, das kurz aufblitzt – und wieder vergeht.
Das Versprechen besserer Modelle – und seine Grenzen
Viele setzen Hoffnung auf sogenannte „reasoning systems“: Mächtige KI-Modelle, die Schritt für Schritt argumentieren und dies auch anzeigen. Doch laut einem Übersichtsartikel1 zu aktuellen Tests erzeugen fortgeschrittene Modelle ein Mehrfaches an Fehlern im Vergleich zu früheren Systemen. Die Maschine spricht mit sich selbst. Das Werkzeug bearbeitet das Werkzeug. Die KI verhandelt mit der KI und verwirrt zuerst sich und dann den Menschen. Verlässlich ist sie nicht.
14. Mai 2025
PS: Auch Schimpansen, Krähen oder Delfine nutzen Werkzeuge. Die ANT beschreibt also nicht nur menschliches, sondern soziales Handeln allgemein: das Geschehen zwischen Lebewesen, Dingen und Kontexten. Vielleicht ist das die wahre Stärke dieser Theorie – sie denkt das Soziale weit über den Menschen hinaus.
1 Metz, C., Weise, K. (08. Mai 2025). A.I. hallucinations are getting worse. The New York Times (International Edition), S. 8.
Glocke und am Seil ziehender Mesner als Beispiel für einen (einfachen) hybriden Akteur.
Das Läuten an der Glocke hat Einfluss auf den Lebensrhythmus der Bevölkerung in der Umgebung.