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Die End-of-Pipe-Prüfung 1

 

 

Von der Verteidigung zur Prüfung

Die Defensio war einmal die Verteidigung einer Masterarbeit oder Dissertation. An vielen Fachhochschulen und Universitäten ist sie heute eine Prüfung geworden. Oft ähnelt sie einem Rigorosum: Die Kommission liest mitten aus der Arbeit einen Satz vor und verlangt eine Erklärung – Wort für Wort.

Natürlich soll und muss der Kandidat seine Arbeit kennen. Doch wenn die Prüfungskommission Detailfragen stellt wie bei einem Gedichtaufsagen, erinnert das  an die 1950er Jahre gymnasialer Unterstufen und einem Deklamieren von Schillers Glocke. Akademische Debatten verlaufen anders. 

Früher: Diskussion auf Augenhöhe

Die Defensio war ursprünglich eine Disputation, so wie sie in Deutschland derzeit noch heißt. Nämlich, ein Gespräch über Theorien, Methoden und Argumenten. Im Mittelpunkt stand nicht die Arbeit allein, sondern die Person. Hat sie das Forschen verstanden? Kann sie logisch argumentieren? Kritisch reflektieren?

So sollte die Defensio (oder Disputatio) zeigen: Dieser Mensch hat gelernt, rational und logisch wie ein Forscher zu denken. Ganz zu schweigen davon, dass er zum gewählten Thema nun eine Expertise aufweist.

Heute: Satzklauberei statt Forschergeist

Das hat sich verändert. Heute entscheidet oft das Klein-Klein. Einzelne Sätze werden geprüft, selten der rote Faden der Forschung – viel Zeit bleibt ja im vorgegebenen Rahmen nicht mehr übrig. Damit geht der Kern der höheren Bildung verloren: die Fähigkeit zum systematischen Denken.

Der Elefant im Raum: Künstliche Intelligenz

Warum dieser Wandel? Der Elefant im Raum heißt KI. Hochschulen sehen sich mit massenhaft KI-generierten Arbeiten konfrontiert. Nach Schock und jahrelanger Ratlosigkeit greifen sie zu rigorosen Abwehrmaßnahmen. Doch statt Studierende vorab im Umgang mit KI auszubilden, setzen sie auf Kontrolle am Ende: Prüfungen, die vermeintlich „echte“ Forschung von maschinellen Texten unterscheiden sollen.

End-of-Pipe-Strategie statt echter Lösung

Das ist eine End-of-Pipe-Strategie. Während des langen Studiums werden KI-gestützte Abkürzungen oft mit einem Augenzwinkern hingenommen. Am Ende jedoch wird streng geprüft. Doch da ist das Kind längst in den Brunnen gefallen. Eine halbe Stunde Satzklauberei ersetzt kein echtes Verständnis von Forschung und kein Bewusstsein für den verantwortungsvollen Einsatz von KI.

Wenn Hochschulen die Qualität wissenschaftlicher Arbeit sichern wollen, müssten sie früher ansetzen: bei der Ausbildung im Denken, im Forschen – und im klugen Umgang mit KI. Und eine solche angepasste Vorgehens- und Lehrweise sollten die Hochschulen rasch umsetzen, sonst ist der Zug für viele studentische Jahrgänge abgefahren.

27. September 2025