Wittgenstein kommt einem Rauswurf zuvor. Selbst für die Moralbegriffe dieser Zeit (Mitte der 1920-er Jahre) hat er unwillige Kinder zu oft und zu intensiv geohrfeigt. Er selbst quittiert seinen Dienst als Volksschullehrer in der tiefsten Provinz von Niederösterreich.

Was ist geschehen? Warum wird ein – durch seinen mathematisch-logischen Traktat bereits weltweit bekannter analytischer Philosoph und Erkenntnistheoretiker – Lehrer in einer Grundschule im Wald hinten den Bergen?

Wer versteht das? Was veranlasst einen Spross der reichsten Fabrikantenfamilie der Monarchie, alles aufzugeben? Warum verlässt Wittgenstein die Metropole Wien, zieht in ein Dorf und lehrt dialektsprechende Sechs- bis Zehnjährige Hochdeutsch und Rechnen?

 

 

Vielleicht sein elitärer und felsenfester Glaube, DIE universale Wahrheit zu kennen. Vielleicht auch seine Besessenheit, das zu beweisen. Wie das Mathematiker eben tun. Überzeugte logisch-ideologische Fundamentalisten sowieso. Also sucht er unverdorbene junge Menschen - Mädchen und Buben vom Land. Um „sie aus dem Dreck zu ziehen“ und gleichzeitig die Überlegenheit neuer pädagogischer Ansichten darzulegen.

Konsequenterweise bewirbt sich W. als Lehrer einer Grundschule in einer von Industrie und technischer Zivilisation nicht berührten Gegend. Das Ziel: möglichst unverdorbenes Menschenmaterial mittels seiner Wahrheits- und Erkenntnislogik, die ja die ganze Welt umfasst (sonst könnte man ja von ihr nicht sprechen, wie er buchstäblich geschrieben hat), zu hoher Blüte zu führen.

Also verfasst er in Zusammenarbeit mit seinen jungen Schülerinnen und Schülern ein Vokabelbuch wichtiger deutscher Grundwörter. So wie es seiner Grundidee im Traktatus entspricht: ein Fundament aus Wörtern zu haben. Um daraus universelle Sprech- und Erkenntnisse zu gewinnen. Doch es scheint, als seien die meisten Landkinder uneinsichtig und widderspenstig.

 

Wittgenstein rennt wohl in der Regel gegen eine unsichtbare Mauer. Und sein Frust über das Nichtakzeptieren der edlen Wahrheit wächst. Kein Wunder, wenn er ebenso regelmäßig explodiert. Kein Wunder, dass er als Lehrer scheitert.

Doch das Scheitern könnte ein wichtiger Meilenstein in seiner Laufbahn als Philosoph sein. Ein Philosoph, der in späteren Jahren offen und empfindsam ist, vorsichtig mit Menschen umgeht und zu verstehen versucht, was in der Umwelt vor sich geht, anstatt als Dogmatiker seine Ideen der Welt aufzudrücken.

Verwirrte, unverständige und vermutlich oft trotzige Kinderaugen sind Tag für Tag Echo seiner Arbeit. Kleine, des Schreibens und Rechnens wenig kundige Volksschüler aus der tiefsten Provinz haben in diesen Jahren dem Formallogiker möglicherweise die Tiefe und Weite des Lebens spüren lassen. Aus dieser Sicht könnten bewusstlos geschlagene Buben ein - zusätzlich zur Begegnung mit Tolstoi ein weiterer - Umkehrpunkt sein, sodass Wittgenstein in den Folgejahrzehnten zum bedeutendsten Sprachphilosophen des 20. Jahrhunderts heranreift.

 

Selbstverständlich stellen seine späteren Leistungen keine Entschuldigung dar für sein Ohrfeigen, Schlagen und Prügeln. Ziemlich sicher hat der pädagogisch überforderte Wittgenstein diese würdelose Periode zu vergessen versucht und wohl großflächig verdrängt. Er wird aber in den Folgejahren in London zu einem anderen - zu einem Menschen der sehr sehr vorsichtig mit anderen umgeht.   

Reinhard Neumeier, April 2019