Desillusioniert hatte ich vor neun Jahren folgenden kritischen Essay über das österreichische Schulsystem geschrieben. In den letzten drei bis vier Jahren veränderte sich das System tendenziell positiv, wenngleich strukturelle Schwachstellen, wie die zahlreichen Brüche zwischen den Schultypen geblieben sind.
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Von Westen nach Osten bahnte sich die Selbstbestimmung ihren Weg. 1776 manifestierte sich die Demokratie zum ersten Mal in einer westlichen Verfassung - der US-amerikanischen. 1789 gab es die Französische Revolution. 1920 wurden die Ideen der Aufklärung auch im geschrumpften Österreich sichtbar, vielleicht, weil es eben klein geworden war und die alte Elite rausgeworfen hatte.
Erst der Kollaps von Österreich-Ungarn hatte einen Neubeginn möglich gemacht. Die Habsburgermonarchie war in ihren letzten Jahrzehnten industriell ein rückständiges Land geworden. Die in Stände aufgeteilte Gesellschaft wurde zentral regiert. Nein, sie wurde von den Amtsstuben administriert. Mit dem Kaiser als oberstem Beamten.
Der gerechte Pausenschlaf eines Straßenkehrers in Luxor / Ägypten, 2001
Unser gegenwärtiges - über die Zeiten gerettetes - Schulsystem ist nach wie vor ständisch organisiert. Es gibt ein dreigliedriges System, welches gezielt die Kinder nach sozialer Herkunft aussondert und die "besseren Kinder" nach oben schleust. Lehrer werden dem dreigliedrigen System gemäß getrennt ausgebildet und verschieden bezahlt.
Die unterste Verwaltungsebene – die konkrete Schule selbst – hat keinerlei Bedeutung. Warum auch, die Zentralstellen wissen ohnehin alles. Wie in der Politik im ausgehenden 19. Jh. regeln Verordnungen den Schulalltag. Direktoren wurden zu Verwaltungsbeamten und Zahlenschreibern degradiert. Ergebnis: Die Zentralstellen bestimmen, wie oft Lehrer in jeder Unterrichtstunde höchstens atmen dürfen.
All das verweist auf die Ursprünge des gegenwärtigen deutschen und österreichischen Schulsystems: die preußischen Kadettenanstalten, wie sie in den Napoleonischen Kriegen gegründet und organisiert worden waren. Streng nach militärischer Sitte wurde den einzelnen Schülern im 50-Minutentakt von jeweils anderen Offizieren ein jeweils anderer Stoff eingebleut oder besser gesagt: in den Kopf gestopft und getrichtert.
Die Inhalte dieser Fächer wiesen keine Verbindungen untereinander auf. Die große Klammer war eben die militärische Disziplin, der sich alle zu unterwerfen hatten.
Dieses System funktioniert innerhalb einer Organisation, die streng gegliedert ist und auf Befehl und Unterordnung setzt. Vielleicht brächte so ein System sogar heute noch halbwegs passable Ergebnisse. Nur wurde in Österreich seit Mitte der 1970-er Jahren zwar das grundsätzliche System von Anordnungen und detaillierten Vorgaben beibehalten, die Situation in den Klassen jedoch entscheidend verändert: die meisten Instrumente von Ordnungschaffen und Disziplinierung (man traut sich dieses Wort ja kaum mehr zu schreiben) wurden den Lehrern genommen.
--> Ergebnis: die armen Lehrerer stehen hilflos vor ihren unreifen Schülern.
Die LehrerInnen werden als isolierte Einzelkämpfer ausgebildet: Lehrer, die als Lonely Rangers schulische und gesellschaftliche Probleme zu lösen haben. Der österreichische Lehrer geht in die Klasse und schließt hinter sich die Tür. Er ist nun allein. Leider ein Offizier ohne Befehlsgewalt - niemand hilft ihm, niemand sieht ihm oder ihr zu, niemand gibt Tipps. Ach so, im Team geht es besser?
Österreichs Schulsystem gleicht dem unbeirrbar fahrenden Großtanker, der seine, seit Generationen vorgegebene Richtung beibehält. Alle sehen es, aber niemand in den Amtsstuben will es wahrhaben. Schulbehörden schotten sich von der realen Welt ab und färben sie gewohnheitsmäßig schön. Jede offizielle Aussendung bezeugt das.
Wer registriert die geänderte Zusammensetzung der Schüler? Das Schulsystem entmachtete ab den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts weitgehend die Lehrer. Autorität ist pfui, ist schlecht.
Jugendliche mit südosteuropäischem oder türkischem Migrationshintergrund aber, welche aus einer Kultur von männlicher Ehre und weiblicher Scham kommen, ticken anders. Sie werden zu Hause hart angefasst. Nur mit ihnen reden? Keine Konsequenzen fürchten zu müssen? Sie lachen - Weiber schwafeln, Männer handeln.
Ein guter Freund, ein pensionierter AHS-Lehrer, erzählte mir folgende Begebenheit, welche die oft unmögliche Situation der Lehrer in den Schulen verdeutlicht:
- Ein pubertierender Junge im Pflichtschulalter stört den Unterricht, beschimpft die Lehrerin, zerreißt die Noten des Musiklehrers,... Folgende Maßnahmen wurden in jeweils extra einberufenen Disziplinarkonferenzen der Lehrer (rund 120 geladene Personen) im Laufe von Monaten diskutiert und beschlossen:
- Der Klassenvorstand spricht offiziell eine Warnung aus / Der Direktor spricht eine Warnung aus / Es wird der Antrag auf Ausschluss angedroht / Dem Antrag auf Ausschluss wird zugestimmt. Gezählte 1.400 Lehrerstunden hatten vier klare Beschlüsse erbracht.
- Die Landesschulbehörde antwortete mit einem klaren Njet.
Fazit: Alle Beteiligten hatten sich lächerlich gemacht. Normaler Unterricht war unmöglich geworden. Keiner der Schüler dieser Klasse lernte mehr. Eltern nahmen ihre Kinder aus der Schule. Die Klasse wurde mit dem Schulschluss aufgelöst.
Wann kommt für unser Schulsystem das Jahr 1920? Wann werden wir selbstbestimmte Schulen haben - 2020, 2030 oder 2040? Nach dem fünfzehnten PISA-Schock?
Reinhard Neumeier, März 2009