Vor 150 Jahren hatte sich die Medizin bereits aufgemacht, eine Wissenschaft zu werden. Einige grundsätzliche Sachen wie Blutkreislauf sind bereits seit langem bekannt, in den Verdauungssäften werden Fermente entdeckt, Begriffe wie Kohlenhydrat und Eiweiß entwickelt.
In französischen Hospitälern werden Kranke genauestens beobachtet, untersucht und (einfach) statistisch ausgewertet, wie es eben für eine erste deskriptive Phase einer Wissenschaft typisch ist.
Doch die Prozesse der Krankheiten aufzudecken und die Ursachen hierfür zu finden, stellen die großen medizinischen Rätsel dieser Zeit dar. Hier wird (unkontrolliert) spekuliert, vermutet oder einfach charismatische Autoriäten zitiert. Mittelalterliches magisches Denken wird zwar weniger, ist aber noch vorzufinden. Und wie!
In deutschsprachigen Landen haben sich seit Generationen die krausen Gedanken der Homöopathie verbreitet: Ein Heilen durch Nichts.
Da erscheint 1865 ein Werk, das die medizinische Grundlagenforschung auf eine neue und seriöse Grundlage stellt. Der Titel ist Programm: Einführung in das Studium der experimentellen Medizin (1). Der bereits angesehene französische Arzt und Experimentator Claude Bernard, hatte sich drei Jahre zurückgezogen gehabt und veröffentlicht nun das Ergebnis seiner Erfahrungen und seines darüber reflektierenden und resümierenden Nachdenkens.
In seiner - jetzt noch gültigen - Grundsätzlichkeit des Ineinandergreifens von Theorie und Experiment gleicht diese Veröffentlichung einer plötzlich am Himmel auftauchenden Nova, eines explodierenden Sterns, der die stellare Umgebung mit sengenden Strahlen durchleuchtet. Aus dämmriger Dunkelheit wird Licht.
Claude Bernard (Wikimedia Commons)
Die Leserin, der Leser möge mir diese hochtrabenden Worte nachsehen, aber dieses, vor fünf Generationen erschienenen Buch ist nach wie vor mit hohem wissenschaftstheoretischen Gewinn zu lesen. Angesichts der gegenwärtigen Replikationskrise in der Psychologie reißt man nur erstaunt die Augen auf: die grundsätzlichen Übel in Teilen der akademischen und statistisch getriebenen Psychologie sind hier bereits im Detail beschrieben!
"La statistique ne saurait donc enfanter que les sciences conjecturales" (2) Statistik kann daher nur mutmaßliches Wissen hervorbringen. Der Leser des Jahres 2020 reibt sich erstaunt die Augen, das war doch vor 150 Jahren geschrieben! Bernard verweist bereits auf die Einflüsse von Voreingenommenheit, Zufall, Versuch und Irrtum, so wie die Geschichte der Wissenschaftstheorie seither voller Beispiele dafür ist.
Aber um beim wissenschaftlichen Instrument Geschichte zu bleiben: Bernard er lehnt statistische nicht ab, sondern den Glauben, Statistik als Grundlage medizinischer Wissenschaften anzusehen. "⌈...⌉elle ne produira jamais les sciences actives et expérimentales, c'est-à-dire les sciences qui règlent les phénomènes d'après les lois déterminées."(3)
Sie [die Statistik] wird niemals [allein] aktiv gestaltende und experimentelle Wissenschaften hervorbringen,
das heißt
Wissenschaften, die Phänomene aufgrund definierter Gesetze durchschauen.
Reinhard Neumeier
Jänner 2020
(1) Bernard, Claude (1965): Introduction à l'étude de la médecine expérimentale. eBook, Project Gutenberg.
(2) ebd., Kindle Pos. 2583
(3) ebd., Pos. 2584