„Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache“ (§ 43 Philosophische Untersuchungen), einer der berühmten Sätze Wittgensteins aus dem Spätwerk. Hier hat er alle – als ewig gültig gedachten – logischen Strukturen des Lego-Universums seines Frühwerks über Bord geworfen. Anstelle der klaren Bedeutungen von Wort und Satz gibt es unterschiedlich gehandhabte Lebensformen, deren wesentliche Teile aus Sprachspielen bestehen.

Ein Zugschaffner nutzt andere Sprachspiele als Donald Trump. Wobei für dessen - von Ressentiment und Hass unterfütterten - Tweets das Wort ‚Spiel‘ im Sinne des Leichten, Möglichen und eines Dem-anderen-nicht-Wehtuns ausgesprochen deplatziert ist. Das Spiel ist oft kein Spiel, sondern Todernst.

 

Keine Frage, der spätere Wittgenstein hat fruchtbare Anregungen gegeben für eine weniger sterile analytische Sprachphilosophie. Mehr noch, er rüttelt am Fundament der analytischen Sprachphilosophie, indem er Logik und Grammatik in Frage stellt, ja bisweilen über Bord wirft. Wird das Erstlingswerk, der Tractatus, von einigen amerikanischen PhilosophInnen als schlichter Unsinn angesehen, so kreisen viele seit Jahrzehnten in immer neuen Interpretationsspiralen um sein Spätwerk, die Philosophischen Untersuchungen.

 

 

Seine semantischen Begriffe, wie etwa die Familienähnlichkeit unterschiedlicher Wörter, sind Allgemeingut geworden und werden in den Oberstufen von Gymnasien gelehrt. Ein weiter Weg, den Wittgenstein gegangen ist: aus der sicheren Welt abgeschlossener, seelenlos-trockener Welt-Atome, die in definierbare Strukturen eingebettet sind, wird eine vage Welt, die durch Zutun und Handlungen erst ausgeformt wird. 

 

  Die Form der Philosophischen Untersuchungen kann als Weiterentwicklung der streng gegliederten Axiome des Tractatus angesehen werden. Wittgenstein landet damit in der handwerklichen Welt von Nostradamus oder Nietzsche. Seine Aphorismen liegen lose ohne jeglichen Gedankenrahmen herum und bilden so ein unerschöpfliches Reservoir für Interpretationen jeglicher Art und Richtung. Sein ursprüngliches Ziel, die Welt rational zu erklären, ist damit in weite Ferne gerückt.

 

  Wie jedoch Nostradamus viele Menschen selbst ein halbes Jahrtausend später nach wie vor beschäftigt, wird das Spätwerk Wittgensteins auch nachfolgenden Generationen ein riesiger Steinbruch bleiben für widerstreitende Assoziationen und Ideen. So wie die Warnungen und Prophezeiungen von Nostradamus bis heute irritieren, sorgt auch Wittgenstein für Unsicherheit. Nichts ist fix, eben eine Philosophie, wie geschaffen für die wirren Aspekte des 21. Jahrhundert. 

 

  Völlig vergessen hingegen ist in den deutschsprachigen Ländern ein Gelehrter, der eine umfassendere und lebendigere Sprach- und Kommunikationsphilosophie entwickelt hat – und das bereits vor 200 Jahren: Wilhelm von Humboldt.

Reinhard Neumeier
August 2019