Lebenslang lernen - klingt anstrengend und mühsam. Wer hilft uns dabei?
Los, ihr lieben Erziehungswissenschafter, führt uns Erwachsene, Ältere, Migranten, Kleinkinder oder Jugendliche an die Futterkrippen des Wissens und Könnens. Skizziert eure evidenzbasierten Konzepte, um uns beim Lernen zu unterstützen. Und ebenso beim Umstellen und Verändern unseres Verhaltens. Das moderne Leben will es so. We really need professional advice!
Um vorab ein Missverständnis aufzuklären: Erziehungswissenschaftler stehen nicht als pädagogisch geschulte Lehrer im Klassenzimmer. Nein, Erziehungswissenschafter erstellen Konzepte - am Schreibtisch oder am Computer. Pädagogen sind die Denker im Hintergrund. Ihre Ideen und Konzepte lenken die Lehr- und Lernsituationen, die Ausführenden (Lehrer etwa) und Aufnehmenden (Schüler etwa).
Die meisten Konzepte verlassen nicht den Schreibtisch. Einige aber wirken unermesslich lang in die Zukunft hinein - bisweilen nerv- und wissenstötend mehrere Generationen lang.
Das Fach Pädagogik ist gekennzeichnet durch eine historisch bedingte, aufgezwungene Übernahme von Inhalten aus Weltanschauungen oder fremden Fächern. Diese Inhalte kommen aus der Psychologie, speziell der Entwicklungs-Psychologie, oder aus der Soziologie, insbesondere der Familiensoziologie. Anthropologen und Verhaltensbiologen mischen mit. Pädagogik ist mithin ein genuin interdisziplinäres Fach.
All das soll uns unterstützen in unterschiedlichen Themenbereichen wie Vorschule, Schule, Erwachsenenbildung, Unternehmen, Kultur, Medien, Erlebnis, Natur, Politik, Sexualität.
Welcher Mensch kann das alles überblicken und in ein Gesamtpaket integrieren? Die vielstimmigen Anforderungen münden in Überforderung. Kein Wunder, dass Erziehungswissenschaftler häufig selber nicht wissen, wer sie sind oder was sie tun: Grundlegende Lehrbücher über Pädagogik (in den zigsten Auflagen wie Kron, Krüger, Gudjons oder Krüber & Helsper) bieten KEINE Definition von Pädagogik. Diese Bücher enthalten zwar viele weise Sätze, was Pädagogik ist oder sein soll - das steht verblüffenderweise nicht drinnen.
--> Der Leser sitzt am Ende des Buches vielleicht müde da und weiß NICHTS über die theoretische und methodische Fundierung von Erziehungswissenschaft. Diese Bücher bieten Unterstufenniveau.
Das ist nicht neu. Die wissenschaftstheoretischen Diskussionen um ein Verständnis der Pädagogik in den letzten fünfzig Jahren brachten einige Vorschläge ins Spiel: Ist Pädagogik nur ein anderer Name für eine Lerntechnik (Didaktik) oder soll es die Nachbarfächer vernetzen? Oder hat dieses Fach bereits w.o. gegeben, indem es meint, alles sei möglich?
Oder machen sich die Granden dieser Hintergrunddisziplin aus dem Staub, indem sie die Verantwortung dem Einzelnen, dem Ausführenden in Form seiner Kompetenz zuschlagen? Wenn der oder die Einzelne nur kompetent ist, kann er oder sie doch alles! Oder doch nicht?
So läuft vieles, was unter dem Dach der Pädagogik ausgebreitet wird, einfach als Nachschreiben und Wiederkauen der Ergebnisse des jeweiligen Nachbarfaches. Erziehungswissenschaftl holen sich mal was von hier, mal was von dort: Medizinisches, Neurobiologisches, Ästhetisches, Anthropologisches, Ethnologisches, Philosophisch-Moralisches neben Theologischem, Psychologischem oder Soziologischem. Sie übernehmen - meist unreflektiert und bar jeder Methode - die jeweiligen Positionen des jeweiligen Faches.
Um einen Moment später die jeweilige (mit der vorherigen Position inkompatible) Auffassung des anderen Faches anzubieten. Friss oder stirb, du armer Pädagogik-Anwender.
Niemanden darf es verwundern, dass ein Lieblingsvokabel von konzeptuell arbeitenden Pädagogen interdisziplinär ist. Interdisziplinarität jedoch erfordert aus wissenschaftstheoretischer Sicht sehr Anspruchsvolles: Inter-disziplinär heißt ein Zwischen-den-Disziplinen-Verbinden, heißt wenigstens teilweise die verschiedenen Methoden und konträren Inhalte der Fächer ineinander überführen und annäherend fusionieren.
Nur dann wäre das Wort interdisziplinär gerechtfertigt. Denn durch interdisziplinäres Forschen entsteht etwas Neues. Etwas, das es in den Fächern so noch nicht gegeben hatte.
Diese Fusionen von Elementen und Methoden aus Nachbarfächern finden in der Erziehungswissenschaft derzeit kaum statt. Stattdessen liest man aufsatzartig die Sichtweisen unterschiedlicher Fächer zu einem Thema. Diese Sichten stehen - völlig unverbunden - nebeneinander. Jede als getrenntes Einzelkapitel, alle Kapitel nur durch den gemeinsamen Einband zusammengehalten. Eigenständiges entsteht so nicht. Es verwundert daher nicht, dass pädagogische Professuren an deutschen Universitäten durch Psychologen und Soziologen besetzt werden. Diese wissen offensichtlich eher, wer sie sind, was sie tun - und setzen sich durch.
Um konstruktiver zu sein: Die Rezeptur, wie die Pädagogik zu einem Fundament kommt, könnte so aussehen: Man nehme den Menschen als evolutionär entstandenes (= biologisches), psychosoziales Lebewesen und gebe dazu große Anteile Lokal-Kulturelles. Rühre ("interdisziplinär") um, untersuche wissenschaftlich das Ergebnis in der schulischen Realität. Dies ist schnell geschrieben und in der gegenwärtigen komplexen Bildungslandschaft schwer umzusetzen.
Nur wir Menschen des 21. Jahrhunderts stehen vor schwierigen Aufgaben. Wer hilft uns, wenn es überall tönt: Lernt ein Leben lang! Wer liefert uns geeignete Konzepte, um in der globalen Wissensgesellschaft motiviert, leicht und gut zu lernen? Wer liefert uns das Brot zum Besserwerden? Wer, wenn nicht respektierte und geschätzte Vertreter einer echten Bildungswissenschaft.
Reinhard Neumeier, Juni 2010