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Nicht allein das Abc
Bringt den Menschen in die Höh
nicht allein im Schreiben, Lesen,
übt sich ein vernünftig Wesen,
[...]
Dass dies mit Verstand geschah,
war Herr Lehrer Lämpel da.
                           Wilhelm Busch
 
Dieser Essay handelt von Pädagogik, oh Entschuldigung, Erziehungswissenschaften. So hieß dieses Fach einige Jahre akademisch anspruchsvoll. Ob allerdings ein gehobenes Wort widersprüchliche Inhalte und verworrene Gegebenheiten übertüncht? Macht ein semantisches Schönmalen Sinn macht in einem Gebiet, dessen gesellschaftliche Bedeutung breit ist und dessen Wirkung über Generationen anhält? Wörtlich bedeutet(e) Pädagogik eine Technik, Kinder in eine Richtung zu führen und lenken.
 
 
 
Eine Schulklasse in Nubien/Ägypten 2001:
Neugierige Mädchen in einer geschlechtsgemischten Klasse, 
rechts an der Tür: der neugierige Direktor
 
Wen ziehen wir, wenn wir ziehen? Wie und aufgrund welcher Ideen lenken wir? Das sind Grundfragen einer, im Idealfall reflexiven Lebenswissenschaft, die strukturell die Zukunft von Kindern und Erwachsenen beeinflusst. Zieht der strenge Lehrer das Kind an den Ohren zur Tafel, in die Kirche, an den Familientisch, an den Arbeitsplatz?  → Was steht an der Tafel? Was für Gebote hören die Zu-Ziehenden Und wie setzen sie das Er-zogene um?
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Diese Fragen sind nur vor einem umfassenden existenziellen Hintergrund zu beantworten. Der weitestmögliche Hintergrund ist die Weltanschauung. Es ist die individuelle oder gesellschaftlich geteilte Lebensanschauung ("view of life", "worldview"). Diese Lebensanschauung begrenzt bereits den Inhalt möglichen Antworten auf Grundfragen des Lebens. Zum Beispiel: Was ist ein Sinn des menschlichen Daseins, gehören andere Lebewesen einbezogen, gibt es vielleicht gar keine universelle Deutung unseres Hierseins?
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Wir alle leben aufgrund von Antworten zu diesen Fragen der existenziellen Lebensorientierung. Entweder nach längerer Reflexion direkt ausgesprochen oder indirekt in den jeweiligen Lebenssituationen angewendet. Diese Antworten fallen weltweit unterschiedlich aus. Je nachdem, ob wir uns in einer US-amerikanischen, japanischen, europäischen, afrikanischen Kultur oder einer beliebigen anderen befinden:
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* Nachdem sich 30 Millionen Japaner über mehrere Generationen den Platz auf einer kleinen Insel in strenger Isolation teilen mussten, hatte sich hier eine zutiefst gemeinschaftlicheren Ansatz entwickelt.
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* Anders die weißen (Neu-)Amerikaner. Sie kamen als einzeln Erfolghabenmüssende und vertrieben die (Alt-)Amerikaner, die Indianer und Indios durch Gewalt und Krankheiten. Sie setzen seit Generationen auf das Einzelprinzip des "the winner takes it all" und verachten die Loser. Ihre Erziehungsprinzipien werden überwiegend am Erfolg des Einzelnen ausgerichtet sein. Die Schönheitswettbewerbe unter Drei- bis Zehnjährigen Mädchen berichten davon.
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* Oder schwarzafrikanische Kulturen, die hunderte Generationen lang erfolgreich sippen- und stammesorientiert gewesen waren. Mitgliedern dieser Kultur fällt es vorerst schwer, sich an der übergestülpten Form eines Staates im europäischen Sinn - einer nächst höheren politischen Organisationsform - anzupassen. Viele Angehörige der politischen Klasse füllen daher ganz selbstverständlich (für unser Empfinden aber ungeheuerlich) ihren eigenen Säckel und den ihrer Sippe.
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* Oder betrachten wir die strikte schulische Trennung zwischen französischem Staat und Kirche, der Laizität. Wenn auch diese Trennung gesetzlich erst um 1900 institutionalisiert worden war, so verursachen das sowohl der weltliche Adel und als auch die religiösen hohen Würdenträger, die im 18. Jahrhundert Frankreich als ihr alleiniges Eigentum angesehen hatten. Zu bunt war ges getrieben worden. So hatten die entfremdeten Führungsspitzen den Boden für die blutige Französische Revolution aufbereitet.
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* Anders halten wir es mit der Religion im deutschsprachigen Raum: Wir in Österreich haben einen "Konkordat" aus den faschistischen 1930er Jahren. Das ist ein Vertrag zwischen katholischer Kirche und Staat. Die Bezeichnung sagt bereits alles: 'ein Herz und eine Seele seiend', in buchstäblicher und sinngemäßer Übersetzung. Deutsche Arbeitgeber behalten direkt vom Lohn (!) eine sogenannte Kirchensteuer ein und reichen sie an die jeweiligen katholischen und protestantischen Kirchen weiter.
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Und sie haben Kreuze in Klassenräumen. Und verbieten - grundsätzlich richtigerweise - gleichzeitig, dass Symbole anderer Religionsgemeinschaften durch Lehrer getragen werden. Bevor wir befremdet die Köpfe schütteln, sollen wir bedenken, dass wir viele Jahrhunderte eben durch eine gemeinsame (gegenseitig stützende) Koalition von weltlichen und religiösen Spitzen geführt worden waren.
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Was glauben Sie, nach welchen Zielen, aufgrund welcher Werte werden pädagogische Konzepte hierzulande geschrieben und an die Schulen vorgegeben werden? Nach dem japanischen Prinzip "die Gemeinschaft zählt", nach dem afrikanischen "Sippe und Stamm zählt, nach dem amerikanisch-neoliberalen "der Gewinner zählt", nach einer Mischung aus französischer, deutscher und österreichischer Weltanschauung und Tradition?
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Die exakte Antwort braucht uns im Einzelfall eines Gesetzes oder Verordnung nicht zu interessieren. Es geht um das Verstehen, vor welchen Hintergründen und traditionellen Werten ein bestimmtes pädagogisches Konzept erstellt wurde. Es geht um die Ziele und Umsetzungsmethoden, die - meist ungeschrieben, dafür umso wirksamer - im Hintergrund von Konzepten lauern. Das zu verstehen, bei Bedarf eine breiten gesellschaftlichen Diskussion anzuregen und die Ergebnisse zu berücksichtigen, wäre die Aufgabe einer deutlich objektiveren und dennoch aktiven Erziehungswissenschaft. Dann wäre sie eine echte, unabhängige Bildungswissenschaft, die gehaltvolle, zukunftsweisende Vorschläge machen kann, wie die Praxis von Unterricht, Erziehung und Ausbildung zu gestalten wäre.
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Erst dann wird Pädagogik und Didaktik eine eigenständige Wissenschaft sein. Ein Fach mit echtem Selbstbewusstsein, das sich auch durch träge Institutionen wie gesetzesbasierten und verbürokratisierten Schulen nicht von ihren, als gut erkannten Konzepten und deren Weiterentwicklungen abbringen lässt.
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Reinhard Neumeier, Juni 2010