"Wissenschaft ist kein Gewerbe, sondern eine Disziplin. Da werden dir die Wühssenschafter sonst die Nase abbeißen", schrieb trocken meine Lektorin zu einem Wissenschaftsartikel.
Hm, historisch waren alle als Gewerbe organisiert – auch die Akademiker. Im Mittelalter waren Kaufleute und Handwerker in Zünften zusammengefasst, genau so wie Theologen, Ärzte oder Juristen. Viele heute noch zu Tage tretende strukturelle Ähnlichkeiten zeigen diese gemeinsame Herkunft:
- Die Meister hatten das Recht, ihr Gewerbe anderen durch Ausbildung zu vermitteln.
- Die Meister regelten, wer Meister wurde.
- Die Meister bestimmten, wer in ihrer Stadt was anbieten durfte.
- Sie bestimmten, ob sie Konkurrenten erlaubten oder nicht.
--> Das kennt man doch auch an den Universitäten!
Die Bestimmenden an den Universitäten waren die Lehrer. In einer akademischen Zunft hießen sie Magister, in einer anderen Doktor, in einer dritten Professor. Magister, Doktor oder Professor bezeichneten ein und dasselbe: den Lehrer- und Meisterstatus. Erst in den letzten Jahrhunderten bildete sich eine Hierarchie akademischer Grade. Seit der Einigung auf europaweite Harmonisierung der Studien und Grade kam ein neuer Grad hinzu: der Bachelor. Und so wie als Kinder können wir nun reimen: Kaiser, König, Edelmann - Bürger, Bauer, Bettelmann. Nur heißt dieser Reim jetzt: Universitätsprofessor, Doktor, Master/Magister - Bachelor, Studentin, Student. Unter den Tisch fällt, dass die Bezeichnung Professor verwaltungsrechtlich eine rein amtliche Berufsbezeichnung ist wie Donaudampfschiffahrtskapitän und kein akademischer Grad.
Alle Meister einer Zunft durften Lehrlinge ausbilden. Die Abfolge der Phasen war (damals schon europaweit gleich): zuerst die Zeit als Lehrling, dann die Wanderjahre als Geselle. Erst nach erfolgreicher Fertigung eines Meisterstückes konnte der Geselle ein Meister werden. Ja, wenn und nur wenn die Meister meinten, es sei Bedarf gegeben. Was eher selten vorkam. Wer setzt sich schon freiwillig eine Laus (sprich Konkurrenz) in den Pelzß
An Universitäten galt bis vor kurzem eine daraus entstandene Zweifachgliederung: Studenten lernen diszipliniert ihr Fach = das ist simpel ihre Aufgabe = ihre Disziplin. Im Rahmen einer Diplomarbeit (eines Meisterstückes oder „Masterthesis" im Englischen) beweisen Studenten ihren fachliche Professionalität und werden zum Magister oder Master - eben dem Meister. Die Zunftgeschichte lässt sich nicht abschütteln. Noch vor 200 Jahren begleiteten Lehrlinge / Auszubildende in den USA manche Ärzte. In der jetzigen internationalen Forschung existiert die ursprüngliche Dreigliederung nach wie vor: eine Lehrzeit als Doktorand (= Forschungslehrling), eine Wanderzeit als Post-doc und ruhmreiche Unterrichts- und Forschungsjahre als Professor, falls man durch den Engpass Zulassung zu Habilitation und Berufung geschlüpft war.
Kennen Sie akademische Feiern? Diese Feiern berühren jeden Teilnehmer. Sie muten Zuschauern den Anblick von Talaren mit Hermelinbesatz und Goldketten zu. Wie aber passen diese irdischen Zeugen materieller Pracht zur angestrebten nüchternen Rationalität des universitären Geistes? Weil Universitäten ihre Geschichte nicht verleugnen können.
Universitäten zeigen ihre Herkunft aus Gilden, um ein anderes Wort für Zünfte zu gebrauchen. In Gilde steckt noch klar erkenntlich das Wort Gold. Politische und gesellschaftliche Gründe erzwangen die Zurschaustellung von luxuriösem Eigentum. Dies war keinesweigs reiner Luxus, sondern belegte vor aller Welt die zunfteigene finanzielle Macht und vor allem Selbständigkeit. Gold begründete Unabhängigkeit - wie heute noch. Wertvolle Kleidung und Goldketten weisen auf eine schwer erkämpfte Unabhängigkeit von den mittelalterlichen Feudalherrschern hin – den Kaisern, den Königen oder den Fürsten.
Ja, es gibt Unterschiede zwischen Gewerbe und akademischen Disziplinen. Der Schneider näht ein konkretes Kleid. Es kann gesehen und betastet werden. Der Kunde merkt in der Regel, ob es passt oder nicht. Der Wissenschaftler 'näht' ebenfalls etwas – ein Modell oder eine Theorie. Aber niemand kann das angreifen. Theorien sind etwas Gedachtes, sie bestehen virtuell. Es kommt noch schlimmer. In der Regel kann keiner den Wert einer neuen Theorie bestimmen. Mühsam nur gelingt nach Jahren die Bewährung.
Meist scheitert das Vorhaben des Geistes – und die erdachte Theorie wandert in den erdachten Papierkorb. In vielleicht einem von zehn Fällen passt die neue Theorie, und die Realität geht in einem neuen Kleid spazieren und bietet Einsichten. Das Erdachte ist jedoch nun zum Zauberkleid geworden. Anhand von Vorlagen des virtuellen Zauberkleides werden Millionen besserer & realer Kleider genäht! Bis es aber aber so weit kommt, muss der akademische Schneider vieles probieren und fast alles wieder wegwerfen. Armer frustrierter Schneider - wie oft wohl hätte er sich am liebsten in seine Nase gebissen?
Reinhard Neumeier, Mai 2012