Das Internet ist eine Zauberwelt: Ein Klick auf ein Wort hier, auf Fotos dort. Die Verheißung der jeweils nächsten Zaubertür in eine andere Welt zieht einen weg. Der jeweils nächste Links verspricht eines neues mentales und emotionales Erlebnis, viel angenehmer als ein trockenes Nur-Lesen.
--> Links verführen leicht zu einem zielvergessenen Stromern.
Die neue Welt liegt einen scheinbar zu Füßen. Es macht Spaß, das Neueste zu finden, oder eine alltagsverständliche Erklärung zu einem komplizierten Begriff aufzustöbern. Innerhalb weniger Augenblicke verschaffe ich mir einen besseren Überblick als vor zwanzig Jahren nach stundenlangen Recherchen in Bibliotheken. Das Herumzigeunern führt zu einem Gefühl des Schwebens und des Dahingleitens.
Jede neue Web-Site will in Sekundenschnelle beurteilt werden: Ist sie seriös oder wenigstens unterhaltsam? Zahlt sich ein Bleiben aus? Längeres Surfen im Internet überlastet und desorientiert. Das Surfen im Web, das Reiten von einer Site zu einer anderen überfordert das Gedächtnis.
Das menschliche Arbeitsgedächtnis kann sich nur vier oder fünf unabhängige Informationsstückchen auf einmal merken. Schon die nächste Site verdrängt die Erinnerung an die vorherige. Die rasch erklickte neue Sicht ist ebenso rasch wieder verloren.
Unser Hirn benötigt Zeit fürs Aufnehmen und Speichern. Der Weg zu einem dauerhafte Erwerb von Wissens und Verstehen sieht eher so aus: Über einen persönlichen Dialog, der mehrere Sinne anspricht, über ausgeführte praktische Handlungen, über ein längeres Versinken in einer spezifische Themenwelt.
Mit ruhigem Kopf in die Tiefe eintauchend - egal ob in einen Bastei-Liebesroman auf 64 Heftseiten oder in ein Lehrbuch der Betriebswirtschaftslehre.
Wir benötigen beides, ein rasches Surfen auf Oberflächen und ein Tauchen in die Tiefe.
Reinhard Neumeier, November 2010
Literatur: Nicholas Carr, Wer bin ich, wenn ich online bin … und was macht mein Gehirn solange? Wie das Internet unser Denken verändert. Blessing, 2010. Ein Sachbuch, das im typisch amerikanisch-seitenaufwändigen Stil verfasst wurde. In Einzelaspekten erscheint die Beweisführung manchmal wenig stringent. Im Kern jedoch wird Wichtiges angesprochen.