Wir leben im dritten Jahrtausend nach Christus. Die ganze Welt ist besetzt von Eiferern, Frommen und Fundamentalisten. ... die ganze Welt? Nein! Europa, eine kleine Halbinsel des riesigen eurasischen Kontinentes leistet Widerstand. Das Leben hier ist schwer geworden für Prediger, Priester und Pastoren.

Die Gläubigen fliehen zu Hunderttausenden und lassen leere Kirchen zurück. Haben Vernunft und Aufklärung nach fünfhundert Jahren triumphiert? 

  Nein, denn auch hier blühen die Geschäfte von östlichen Gurus und westlichen Geistheilern. Europäische Menschen des 21. Jahrhunderts kaufen teures, energetisiertes Wasser und besuchen Wochenendkurse von Aura-Therapeuten. Sie stellen Möbel um und hängen Spiegel in Raumecken auf, um Energie wieder fließen zu lassen. Reiki-Anhänger praktizieren Handauflegen, approbierte Ärzte verschreiben Bachblüten und homöopathische Schüssler Salze. Ratsuchende wenden sich an Astrologen und esoterische Call-Center. 

  Was geschehen ist: Europäer entziehen sich unvernünftigen Glaubenslehren, meiden Religionen, deren Ursprünge weit in der Vergangenheit liegen und welche Bedürfnisse ansprechen, die irrelevant für die Gegenwart geworden sind. Gut, dann aber sollten wir in einer Zeit der kritischen Vernunft, der Fakten und des nachprüfbaren Wissens leben.

Wieso geben Europäer dann für die Vermittlung von persönlichen Engeln, für 'Information' zum vorherigen Leben oder für Worte von Verstorbenen aus dem Jenseits tausende Euros aus? Warum wenden sich derzeit Millionen Abendländer ab von Aufklärung und Wissenschaft, warum leben wir in einer Zeit vieler neuer Glauben?

 

Myanmar: Huldigung vorbuddhistischer Dämonen

 

  Ein Jahrzehnt nach der 68er Bewegung folgte ein Aufbruch anderer Art: der Aufbruch in eine alternative Kultur (mit Müsli, Bio-Gemüse, ...) einerseits und in eine sich neu formierende esoterische Kultur andererseits (mit viel Meditation und Räucherstäben). Welch befreiende Gefühle sind in den 1970er Jahren emporgestiegen, wie erhebend war die Stimmung, wie überwindend die verbreitete Technikgläubigkeit!

Ich hatte mich voll in diese Zeit, in ihre Themen und alternativen Ideen hineingestürzt. Wir fühlten uns neugeboren, körperlich und geistig verjüngt. Wir dachten, nah am Leben und weit weg vom Tod jeglicher Art zu sein - welch ein grandioser Irrtum! Denn viele dieser Ideen führten schnurstracks in die naive neue Gläubigkeit.

 

   Vielleicht sehnen sich die Menschen nach einem Mehr, einem nicht gleich sichtbaren Mehr. Sie wollen Anderes glauben als mittels Augen und Ohren erkennbar oder durch Technik und Wissenschaft belegbar ist. Ein Mehr, das man anstrengungslos erwerben - und nach einiger Zeit wieder vergessen kann.

Dieses Andere soll überdies Sinn bieten in der modernen, sich unablässig verändernden Welt. Moderne Menschen, ausgerüstet mit Smartphones und Tablets, probieren daher dies und jenes und schaffen sich ein individuelles Weltbild aus Patchwork. Sie greifen 'hinaus', 'hinauf' oder 'hinein' in ein angenommenes feinstofflich Inneres, fühlen sich anschließend (für eine kurze Zeit besser) und empfinden das als spirituell.

  Hier schließt sich der Kreis zu den Erkenntnissen der Palliativmedizin. Es scheint, als suchten auch moderne Menschen ein weitendes, den Alltag übersteigendes Gefühl.  Vielleicht fliehen Menschen ob dieser erhebenden Gefühle von vernunftwidriger Religion in vernunftwidrige Esoterik.

Vielleicht wollen sie den Tod verdrängen und klammern sich an jeden Strohhalm - sei er noch so löchrig und morsch. Folgerichtig geraten sie geraten dadurch vom Regen in die Traufe. Ein Klein- und Dummgehaltenwerden geschieht auch jetzt, halt mir coolen modernen Wörtern.

  Dieser Irrweg führt zur Frage: Wo finde ich diesen erhebenden Schwung, jedoch auf rationale Weise? Welche plausiblen und nichtreligiösen Ansichten erzeugen Gefühle, ein Teil von einem Mehr zu sein – von etwas, wonach wir offensichtlich streben? Kurz, gibt es Spiritualität, die auf Verstand und nichtmanipulierten Gefühlen beruht? 

Ja, weltliche Spiritualität gibt es. Weltlich gegründete Spiritualität, die vernünftig ist und gerade deswegen Mut und Lebensfreude erzeugt. Zahllose Menschen haben sie bereits erlebt – Wissenschaftler, die eine Lösung gefunden oder Menschen, die anderen geholfen hatten. Ja, säkulare Spiritualität erzeugt dieses kostbare Erleben von Weite und Tiefe. Dies lässt Menschen einander umarmen und sich am Wunder von Erde und Leben erfreuen. 

Reinhard Neumeier
August 2013