Das häufig gebracht Wort Disziplin ist doch unpassend für Wissenschaft, oder? Erwartet man von Wissenschaften nicht Kreativität, Ideen und Erkennen neuer Zusammenhänge? Was hätte trainiertes Aufsagen von einmal Gelerntem hier verloren?

Beim Begriff Disziplin denken wir an Soldaten und Militär, an Schlägen mit dem Rohrstab in den Schulen der 1950er Jahre oder an die e-i-n-g-e-h-ä-m-m-e-r-r-r-r-t-e-n Parolen von Zucht und Ordnung ein paar Jahre früher.

 

Ja, das ist seltsam. Disziplin der erste einleitende Begriff als Eingrenzung und Unterteilung von Wissenschaften will nicht so richtig passen. Man stolpert über gegensätzliche Assoziationen. Die Herkunft des Wortes zeigt eine Doppelbödigkeit: Disziplin steht im Herkunfts-Duden „Zucht, Ordnung“ einerseits und Wissenszweig oder Fachzweig andererseits. Das Verb disziplinieren wird als „an Zucht und Ordnung gewöhnen“ übersetzt.1

Ist daher eine Wissenschafts-Disziplin eine Schule, in der man mit dem Rohrstab das Wissenswerte eingetrrrrichtert kriegt? Autoritär von oben herab? Das wäre doch das Gegenteil demokratisch orientierter, rein auf das Können der einzelnen Teilnehmer ausgerichtete Geschehen.

Blickt man in den Wissenschaftsbetrieb hinein, so drängt sich der Eindruck einer gewissen Richtigkeit dieses Bildes auf. Die langen Jahre des Erlernen des Faches (des Studiums) sind geprägt vom Aufnehmen eines einheitlichen, disziplinierenden gedanklichen Vorgehens. Überdies stoßen später Wissenschaftler mit neuen Ideen oft auf eine Barriere, die heißt: „Wir haben das in den letzten Jahr ganz anders gemacht – und so soll es auch bleiben“. Also eine konservierende, Alte hochhaltende "Halte-Disziplin".

 

Öffentlich-privat telefonieren in Caracas / Venezuela

Caracas in Venezuela 2004: Der öffentliche Telefonapparat ist kaputt oder wurde kaputt gemacht. Diszipliniert stehen die Hauptstadtbewohner bei einem privaten Vermittler (sitzend) für ein Telefongespräch an.

Diszipliniertsein hat Vor- und Nachteile. Beginnen wir von vorne: Als Studierender eines Faches ist man zuallererst ein Lehrling, ein Auszubildender. Zwar wird man nicht so oft für fachfremde Tätigkeiten herangezogen wie früher – etwa Wurstsemmel- und Bierholen für die Jause des Meisters – aber das mühselige und hundertfach wiederholte Tun immer gleicher Tätigkeiten bleibt. Bis es in Fleisch und Blut übergegangen ist.

--> Man hat gelernt. Das heißt auch, man wurde diszipliniert. Das ist der Vorteil. Aber dadurch ist man geprägt für die nächsten Jahre, unter Umständen Jahrzehnte. Umzulernen ist anstrengend, tut psychisch weh und wird daher gerne vermieden. Das ist der Nachteil. 

 

Ebenso selbstverständlich stellt sich nicht jede neue Idee als das Gelbe vom Ei dar. Die meisten neuen Ideen sind sogar schlechter als bisher Erreichtes. Würden Wissenschaftler alles Neue freudig und ungeprüft übernehmen, fielen wir in ein chaotisches Nichtmehrwissen des bisher Bewährten. Das ist der Vorteil der traditionellen Beharrung auf Überprüfung und Halten einer Disziplin, einem Hängen am Bisherigen.

Beharrt jedoch der Universitätsprofessor sein Leben lang auf dem, was er als 25-Jähriger gelernt und als 30-Jähriger erforscht hatte, so wird er die Fortschritte im Fach und bei seinen Studenten bremsen. So zeigt sich das Nachteilige einer - einmal eingelernten oder autoritativ von oben bestimmten - Disziplin und Denkrichtung. Auch dieses menschliche, für den Erkenntnisfortschritt in den Wissenschaften aber Ungünstige wird in der Wissenschaftstheorie bereits als solches erkannt.

Die weiteren Beiträge dieser Serie sollen zeigen, wie sich Denkrichtungen in einzelnen Wissenschaftsfächern geändert haben und was das für Auswirkungen auf das Denken und Verhalten der Wissenschaftler hat. Wie sich dadurch 'Zucht und Ordnung' ( = Paradigma als Leitbeispiel genannt in der Wissenschaftstheorie) verändern. Und wie sich das sowohl auf die wissenschaftliche Weltsicht als auch unser privates Leben auswirkt.

 

Reinhard Neumeier, Mai 2010

1 Duden, das Herkunftswörterbuch, Band 7, Dudenverlag Mannheim, 1989, Seite 131