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Covid-19 oder das globale Feldexperiment
Kultur- und Gesellschaftswissenschaftler sehen fruchtbaren Zeiten entgegen: Wie fühlt der Mensch in Krisenzeiten, wie handelt er und welche Denk- und Verhaltensmuster tauchen auf im Großverbund vieler Menschen, Kulturen und Gesellschaften?
Während meines Philosophie-Studiums an der Uni Wien in den 1990er-Jahren musste man in jeder wichtigen Prüfung irgendwas von Immanuel Kant sagen. Ich empfand das als Kant-Krankheit der Prüfenden, denn ein Vierteljahrtausend ist eine lange Zeit und die gegenwärtige Gesellschaft tickt ganz anders. Wirklich?
Vereinfacht gesagt kann der Einzelne nach Kant in drei aufeinander aufbauenden Stufen zur Erkenntnis kommen:
1. durch den Sinnesapparat kommt er zu ANSCHAUUNGEN,
2. ein Verstehen dieser Anschauungen im Rahmen einfacher Begriffe heißt VERSTAND und
3. durch das Anwenden von logischen Prinzipien durch eine reine, das heißt ohne Vorerfahrungen gefärbte, VERNUNFT.
Um zu tragfähigen Erkenntnissen zu kommen, muss nach Kant im Rahmen von Experimenten auf dieser dritten Stufe die Vernunft mit ihren Prinzipien „an die Natur gehen“. So Kant in den erklärenden Vorbemerkungen im seinem bedeutendsten Werk Kritik der reinen Vernunft. C.F.
Weizsäcker hat das im 20. Jahrhundert verschärft: Die Natur ist zu verhören. Im Sinne von zwingen, drücken, ja vielleicht sogar, ihr die Daumenschrauben anzulegen. So gequält, gibt die Natur Wahrheiten preis.
Die Natur hat den Spieß umgedreht. Sie experimentiert mit uns. In einem globalen einfaktoriellen Experimentaldesign mit dem Corana-Virus als unabhängige Variable werden wir Menschen getestet. Wir befinden uns im Schwitzkasten des Virus. Und sehen, was wir alles nicht können.
Wir - das ist die gegenwärtige Menschheit, die auf dem Spielfeld, nein, auf dem Schlachtfeld teils überlappender, teils differierender Weltanschauungen lebt: Kulturelle Anschauungen wir Individualismus, Tribalismus, Sozialismus, Liberalismus, Islamismus etc. Erste grundlegende Erkenntnisse sind da.
Und da schauen wir Westler (grob gesagt: Vertreter europäischer und nordamerikanischer Kultur/Zivilisation) schlecht aus.
Was sich in den USA an Ignoranz und Nichtwissenwollen abspielt, ist reine Karikatur. Die europäischen Gesellschaften sind nur mäßig besser. Die fernöstlich-asiatischen Gesellschaften kommen aufgrund ihrer Achtung für die Gemeinschaft deutlich besser mit der Pandemie zurecht.
Der westliche Vorsprung der letzten 400 Jahre, beruhend auf Wettbewerb, Wissenschaft und Technik (z.B. Waffen), ist weg. Das damit zusammenhängende „weiße“ Überlegenheitsgefühl stellt sich im 21. Jahrhundert als unberechtigt heraus.
Nach Kant leben und kämpfen wir nach wie vor auf der ersten Stufe der Erkenntnis, den Anschauungen. Sad, so sad. Ich muss Abbitte bei Kant leisten – sein Schema ist fruchtbar.
6. Dezember 2020
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