Wittgensteins Werk wird in zwei Phasen eingeteilt: I und II, Frühwerk und Spätwerk. Zuerst das Hauptwerk des ‚Tractatus‘ als Inbegriff formaler  - auf einfacher Ebene strukturierter - Logik auf Basis einer Abbildtheorie; dann das entgegengesetzte Hauptwerk der ‚Philosophischen Untersuchungen‘ in seiner Spätphilosophie, das die Abbildtheorie als Schimäre erkennt.

Wie kommt es dazu, dass ein und derselbe Schriftsteller und Philosoph von einem formal fundamentalistischen Lager ins gegnerische Lager einer offenen Sprachphilosophie hüpft? 

Zwei Faktoren für diese grundsätzliche Wende haben wir schon erwähnt: Erstens, ein am trotzigen Widerstand von Grundschülern in der Provinz gescheitertes Lehrerdasein in den 1920er Jahren. Zweitens, der mystisch-spirituelle Einfluss Tolstois ab 1914. Es gibt einen dritten Faktor, der in der Biographie regelmäßig erwähnt wird: Ein Vortrag des Mathematikers Luitzen Brouwer 1928 in Wien.

 

Was ist geschehen? Wie ist das aus wissenschaftstheoretischer Sicht einzuordnen? Viel zu wenig wird nämlich in der Literatur zu Wittgenstein beachtet, dass dieser mitten in die Grundlagenkrise der Mathematik hineingeraten war. So zeigt etwa im 19. Jahrhundert die Entwicklung der nicht-euklidschen Geometrie, dass beispielsweise Parallel-Annahmen der euklidschen Geometrie nicht mehr gelten.

Es scheint mehrere Systeme der Mathematik zu geben. Einige Mathematiker versuchen daher, diese erschütternde Unsicherheit zu beseitigen und eine einzige Grundlage für die Mathematik zu schaffen. Dazu gehört Gottlob Frege mit seinen veröffentlichten Grundgesetzen der Arithmetik. Frege versucht darin, Mathematik rein auf logische Axiome zurückzuführen.

Wittgenstein besucht 1911 Frege. Mit der unübersehbaren Folge, dass der Tractatus nach demselben System entworfen ist wie Freges Grundgesetze. Mit der Einschränkung (oder Erweiterung, wie man das auffassen mag), dass Wittgenstein die Abbildtheorie als zusätzlichen theoretischen Hintergrund einführt.

Wittgenstein kämpft in der Folge zehn Jahre im Lager der universellen Logiker. Und zwar mit Vehemenz und Konsequenz bis zum Äußersten.

 

1928 nun der Auftritt eines weiteren grundlagenphilosophischen Mathematikers, der Geometrie und eine fortgeschrittene Mengentheorie verknüpft: Brouwer. In den drei Jahrzehnten seit der Veröffentlichung von Freges Grundgesetzen (und ähnlichen Versuchen) ist deutlich geworden, sowohl die Abbildtheorie als auch strikte logische Axiomensysteme weder als universeller theoretischer Hintergrund in den Wissenschaften taugen noch als lebendiger Kompass für den Alltag.

 

Ein herbstlicher Morgen am Weissensee in Kärtnen (Ö)

 

Wittgenstein wechselt nun die erkenntnistheoretischen Seiten – vom formalen Logiker zu einem Menschen, der die Intuition im Zentrum des Bewusstseins und des Lebens sieht. Welch ein Riesensprung, doch gerade das ehrt Ludwig Wittgenstein! Üblicherweise sind Gläubige und Ideologen immun gegenüber Argumenten, die ihre Weltanschauung unterlaufen. Sie verteidigen in der Regel ihre Auffassung bis ins Grab. Nicht so Wittgenstein.

Liest man die Philosophischen Untersuchungen und vergleicht diese mit dem Tractatus, so wird der Unterschied deutlich: Die Welt wird nicht mehr reduziert und getreten, bis ein erdachtes zugrunde liegendes Skelett sichtbar wird.

Der hämmernde Ton eines niederredenden Rappers ist verschwunden, die dogmatische Überheblichkeit hat sich in Luft aufgelöst. Vielmehr ist Wittgensteins Sprachstil im Ausdruck sanft, inhaltlich nähert sich der Autor spiralig einer (vorläufigen) Teilerkenntnis. Der Leser bleibt entspannt, die bisweilen beim Lesen des Tractatus entstandenen Knoten im Magen bleiben hier aus. Wie angenehm.

Reinhard Neumeier
Juli 2019