Den Anfang des Lebens überlassen die meisten Philosophen den überkommenen Religionen. Weil sie sich vielleicht an den Satz von Wittgenstein hielten: „wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen1). Das Erkennen von Nichtwissen ist eine wichtige Methode in der Suche nach Wahrheit, vielleicht die allerwichtigste. 

Das Ende des Lebens allerdings, der Tod, scheint Philosophen anzuziehen. 

 

 

Leben zu lernen, dazu gehört das ganze Leben“ meint Seneca und setzt fort: „sein Leben lang muss man sterben lernen“, sonst „hat der Mensch nicht lange gelebt, er war nur lange dagewesen2)Das Leben, das er führte, war ein äußerst betriebsames, im tendenziellen Gegensatz zu seinen stoischen Prinzipien. Eine chronische Bronchitits, häufige Asthmaanfälle und seine politische Involvierung am lebensgefährlichen Hofe Kaiser Neros dürften ihn täglich an sein Ende erinnert haben.

Wer sterben gelernet hat, hat ein Sklave zu seyn verlernet3) meint 1500 Jahre später Montaigne. Sterben lernen, hieße, frei zu werden. Ob man das wirklich lernen kann? Schließlich hat man nur eine einzige Gelegenheit. Montaigne will sich von der Unheimlichkeit des Todes befreien. Durch Gewöhnung an diesen Gedanken des eigenen Endes, soll man den Tod gelassen hinnehmen. Allerdings sagt die moderne Psychologie, dass ein dauerndes Beschäftigen mit angsterzeugenden Umständen zu noch größerer Angst führen kann. Für jeden hilfreich scheint der Rat des Gewöhnens daher nicht zu sein.

Was wir hier auf jeden Fall lernen: Vorsichtig zu sein und Ratschläge nur mit Samthandschuhen anzugreifen. Es hat sich in den letzten Jahren ein medizinisches Spezialfach entwickelt, das sich Menschen widmet, die in absehbarer Zeit sterben werden: Die Palliativmedizin. Pallium (lateinisch) heißt der Mantel. In diesem Sinn ummantelt die Palliativmedizin Nöte und lindert Schmerzen. Gemäß WHO (Weltgesundheitsorganisation) und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin geht es hierbei um eine Verbesserung der Lebensqualität in vier Dimensionen von Problemen und Nöten: körperlich, psychisch, sozial und spirituell. Palliativmedizin will trösten, weil nicht mehr geheilt werden kann. Sterbende sollen mit ihrer Angst aufgefangen werden. 

Hierbei wurde vieles entdeckt, was für Lebende sehr nützlich sein könnte. Ärzte der Palliativmedizin haben beobachtet, wie vor dem Tod oft das Theaterspielen aufhört, Oberflächliches abfällt und Wesentliches in den Vordergrund tritt. Offenheit und Wahrhaftigkeit gestalten daher die Beziehungen zwischen Ärzten, Patienten und Angehörigen. Paradoxerweise steht damit etwas im Vordergrund dieser Medizin, das wir Lebensqualität nennen. Viel können wir davon lernen.

 

Reinhard Neumeier, August 2013

  

1) Wittgenstein, Ludwig (1918/2010): Tractatus Logico-Philosophicus, Projekt Gutenberg, Vorwort des Tractatus, S. 91 

2) Seneca, Lucius Annaeus (49/1993): Philosophische Schriften, Von der Kürze des Lebens, Hamburg: Felix Meiner Verlag, S. 123 und S. 125

3) Montaigne, Michel de (1580/1996): Essais I, XIX. Hauptstück: Daß Philosophiren sterben lernen heisse, Zürich: Diogenes Verlag, S. 103- 135