Wissenschaftler - die gegenwärtigen Jäger des oft Unsichtbaren - sind in der Regel stolz auf ihr Gewerbe. Hat es doch Einsichten über unsere Welt geliefert und die menschliche Lebenserwartung deutlich vergrößert. Alles ein Ergebnis von 350 Jahre rationalem Forschungsvorgehen in der modernen Wissenschaft. 350 Jahre? Wirklich?

Das soziale Jagdverhalten der !Kung-San - der bis vor Kurzem noch als Jäger und Sammler lebenden Buschmänner der Kalahari Halbwüste im Süden Afrikas - zeigt auf weit ältere Wurzeln eines modernen Forscherverhaltens. Wenn ich das im Folgenden erklären darf. Die Jäger sehen sich regelmäßig mit diesem Problem konfrontiert:

Größeres Wild lässt sich mit Pfeil und Bogen oder Speer häufig nur verwunden und nicht sofort töten. Verwundete Beute jedoch muss verfolgt werden – manchmal tagelang. Wichtige Fragen kreisen um daher Nichtsichtbares, das durch Fährtenlesen und zu testende Schlussfolgerungen transparent gemacht werden muss:

"Where is the animal now? Which way is it going, an dhow fast? Is it likely to stop or to Reverse direction? Where and how seriously is it wounded" (Jones und Konner, 1988: 342) 

 

Ruine im Landesinneren von Kalabrien (Italien)

 

Um diese Fragen zu beantworten, zählt weniger das überragende Geschick eines Einzelnen als ein ausgewogenes soziales Verhalten der !Kung-San. Ganz klar können die wesentlichen Grundzüge wissenschaftlicher Dispute festgestellt werden: diskutiert wird mit gedämpfter Stimme; eine Arbeitshypothese über Position, Zustand und mögliches zukünftiges Verhalten des verfolgten Tieres wird aufgestellt; die Jäger wissen, dass es nur eine Hypothese ist.

Sie testen diese Hypothese im Verlauf der weiteren Verfolgung anhand neuer Spuren. Und konstruieren, wenn sich die Überlegungen als falsch herausstellen sollten, neue Modelle und Hypothesen.

 

Einen großen Vorteil hatte diese immer wiederkehrende Jagdsituation unserer Vorfahren gegenüber vielen gegenwärtigen wissenschaftlichen Disziplinen: Der Erfolg eines rationalen und umsichtigen, alle Informationen berücksichtigenden Vorgehens konnte direkt an Hand voller oder leerer Hände der ins Lager zurückkehrenden Jäger abgelesen werden. Dann beginnt ein Verfahren in einer Gruppe, die wir heute Peergruppe nennen würden.

Richtiges Vorgehen wird durch andere erfahrene Jäger des Unsichtbaren beurteilt. Hier ist es in den modernen Wissenschafter manchmal schlechter bestellt. Denn nicht selten wiegen höhere hierarchische Positionen, die ältere Wissenschafter aufgrund früherer, vielleicht schon lange überholter Erfolge innehaben, mehr als neue und bessere Ideen.

Dann dauert es - in den Geistes-, Kultur-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften gehäuft - Jahrzehnte bis sich das Bessere durchsetzt. Ein leider gängiges Muster, dem junge und innovative Wissenschaftler gegenüberstehen. Junge Wissenschaftler haben's schwer, selbst wenn ihr "erlegtes Wild" (ein neues Modell, eine neue Theorie) besser ist als herkömmliche Modelle des Faches.

Reinhard Neumeier, Februar 2009

 

Quelle: Jones, N. & Konner, M. (1998), !Kung Knowledge of Animal Behavior (or: The Proper Study of Mankind Is Animals), in: Lee R. & DeVore I. (Hrsg.), Kalahari Hunter-Gatherers: Studies of the !Kung San and Their Neighbors, Cambridge: Harvard University Press, S. 325 - 348.