Im Oktober 1969 startete ich mein Studium an der Hochschule für Welthandel in Wien. 1969 drängten die ersten Jahrgänge der Baby-Boomer in die Hörsäle, das Audi Max quoll über in den Anfängervorlesungen und viele Studenten standen am Fenster, saßen auf den Stufen oder auf faltbaren Dreibeinhockern, wie sie Fischer nützen.

Kurz, die betriebswirtschaftliche Lehre wurde im Rahmen eines Massenbetriebes gelehrt, so wie es heute in nahezu allen Fächern der Fall ist.

Dennoch wurden wir Grünschnäbel von allem Anfang an aufgefordert zu fragen und unsere Meinung kundzutun. Inhalte konnten und sollten begründet kritisiert werden! Hierbei ging es aus wissenschaftsdidaktischer Sicht vor allem um drei Punkte:

  1. Die methodische Basis von Wissen aufzuzeigen, die Annahmen der (gelegentlich stillschweigend verwendeten) Hintergrundmodelle klarzulegen und damit auch die Grenzen des Wissens darzustellen;
  2. Uns Studenten früh kritisches Denken nahe zu bringen;
  3. Zu zeigen, dass auch die lehrenden Universitätsprofessoren nicht allwissend sind und Semester für Semester dazulernen.

Der zweite und dritte Punkt verweist auf die universitas (magistrorum et scholarium), auf einen fast eintausendjährigen Begriff der universitas, einer Gemeinschaft, in der Lehrende und Lernende ihre Rolle auch tauschten. Im Mittelalter mehr als jetzt, da die Studenten aus allen Ecken Europas stammten und somit frischen Wind und neue Sichtweisen in die universitäre Gemeinschaft brachten.

 

Prag als mitteleuropäische universitäre Gründungsstadt / 1348

Jetzt, rund ein halbes Jahrhundert später, ist aus der ehemaligen Hochschule eine Universität geworden. Von der Bezeichnung her wunderbar. Die Studenten studieren vereinheitlicht nach Bologna-Vorgaben.

Jetzt wird jedoch klar, was wir damals - an der Hochschule - hatten, was dort selbstverständlich war und nun schmerzlich fehlt. Die Punkte 1 und 2 sind Neuland für viele gegenwärtige Studentinnen und Studenten. Ergebnis: Das Verfassen einer Masterarbeit überfordert sie.

Die Masterarbeit soll ein Meisterwerk an methodisch-kreativem, aber auch kritischem Denken darstellen. Das früher Selbstverständliche wird als großer blinder Fleck der europäischen Universitätslandschaft des 21. Jahrhunderts sichtbar: Kritik, das wichtigste Gütekriterium von Wissenschaft, fällt im Bachelor- und in vielen Master-Studiengängen unter den Tisch. Woher sollen die angehenden Meister dies auch kennen? Kritisieren ist im engen Zeitkorsett nicht vorgesehen, das gilt als Störfaktor.

Das Beurteilen der Seriosität von Quellen – selten angeregt, nie geübt. Studierende lernen, was der Vortragende ihnen vor-sagt und vor-schreibt. Das Grundstudium ist in ein enges zeitliches Korsett gepresst.

Wie soll so selbständiges Forschen gelingen? Das eigenständiges Entwickeln des Forschungsdesigns, das Aussuchen eines geeigneten theoretischen Hintergrundes und kompatibler Methoden, um Forschungsfragen beantworten zu können – nie angeregt, nie geübt. Das Gewinnen, Analysieren, Interpretieren und Zusammenführen von Daten zu Erkenntnissen – selten vorgemacht, geschweige denn geübt.

Keineswegs war früher alles besser als heute! Ein weltweites Recherchieren am Laptop von zu Hause aus – eine gigantische Verbesserung. Doch eine Unversität Humboldtscher Prägung mit kombinierter Lehre und Forschung gibt es nur mehr an wenigen Stellen, ganz zu schweigen von den außeruniversitären Lehrgängen, die ebenfalls zu einem Masterabschluss führen. Diese verstanden sich von Anfang an als Unterrichts- und Ausbildungsstätten.

Auf weiten Strecken wurde Humboldts vor 200 Jahren vollzogene Reform des Universitären nun still und heimlich wieder zurückgenommen, von hunderten europaweit anerkannten ICTS-Punkten gnädig verschleiert…

Reinhard Neumeier, November 2017