"Dieses Fach hat die philosophische, soziologische und historische Komponente fast ausradiert."1

Mein erstes Studium vor 50 Jahren war  BWL gewesen. In einer Zeit, als aus der Hochschule für Welthandel Wien die Wiener Wirtschaftsuniversität wurde. Und - wie die Namensänderung aussagen will - aus einer praxisbasierenden Methodensammlung des Kaufmännischen ein Wissenschaftsfach geworden ist. 
 
Warum hatte ich BWL gewählt? Weil ich nach der Matura zu viele Interessen hatte und mich nicht auf ein Fach festlegen konnte. Wirtschaft schien mir ein Bereich zu sein, der in viele andere Wissenszweie hineinreicht und von diesen befruchtet wird. Meine Studienfächer umfassten damals neben den BWL-Fächern Bürgerliches Recht, Verfassungsrecht, Mathematik, Statistik, Wirtschaftsgeschichte, Sprachen wie Französisch oder Spanisch, Informatik, Technologie, Volkswirtschaftslehre, Soziologie, Psychologie, Philosophie und Rechnungswesen.
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Die Studienzeit war für mich eine glückliche Zeit gewesen: Hier gab es viel über die Breite menschlicher Aktivitäten zu erfahren als auch war es möglich - bei Bedarf - in die Tiefe zu bohren. Man konnte in einem wahren Lustgarten an zusammenhängenden wissenschaftlichen Disziplinen wandeln: universitas at its best.
 
In den 1970-er und 1980-er Jahren erlebte ich die europäischen Bewunderung des reinen Studiums an Hand von konkreten Fallstudien: der Master of Businessadministration (MBA) etwa in Harvard ließ einen Mag.rer.soc.oec von der Welthandels-Hochschule  als mickrig erscheinen. Die soziale/gesellschaftliche Komponente eines integrierten Wirtschaftens war hier im akademischen Grad als "soc." festgehalten, gleichberechtigt mit dem "oec." für Ökonomie. Wie rückständig, wie hinterwäldlerisch!
 
Was wir damals übersehen hatten: Dieser Harvard-MBA, der auf einer großen Zahl von Fallstudien beruhte, kam theorielos daher. Theorielosigkeit als ein Nichtwissen um die Hintergründe, um die Vorannahmen und um schon getroffene Vor-Entscheidungen. Theorielosigkeit bedeutet ein Gefangensein in nicht bemerkten Glaubensüberzeugungen. Wir sprechen hier im Grunde von Religion. Eigentlich sollte es niemanden wundern - dieses Business-"Studium" kam aus Nordamerika. Hierher waren vor rund zehn Generationen Glaubensgemeinschaften geflüchtet, weil sie in Europa verfolgt wurden. Um mit Sattelberger zu sprechen: "Der extreme Ausdruck dieser uniformen Ideologie ist der angelsächsische MBA (Master of Business Administration). Der ist geistig so arm, so einseitig."
 
 
 
Das BWL-Studium ist nun stark auf die Belange spezifischer Wirtschaftsbereiche ausgerichtet. Nein, nicht Wirtschaft im gesellschaftsorientierten und Leistungen für die Menschen erbringenden Sinn, sondern egomanisches Business im Sinn eines Geld-Rausholen-für-mich-soviiel-nur-geht. Hatte BWL in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts den verdienten Rang einer Wissenschaft erreicht, rückt nun wieder das Methodenvermitteln in den Vordergrund: Teaching statt Science.
 
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Die Managementzeitschriften, die in den letzten Jahren des 20. Jahrhunderts durch die Büros wanderten, bestanden aus simplen Anleitungen ohne jedes Für und Wider. Das Einfache an diesen Konzepten wurde durch modische angelsächsische Wörter überspielt: Benchmarking, Balanced Scorecard, Change Management, Branding, Downsizing, Empowerment, Kernkompetenz, SWOT-Analyse, Sieben-S-Modell (als verdaulicheres Ein-S-Modell für die Bosse zusammengefasst), Lean Production, Total-Quality-Management, Unique-Selling-Proposition, Just-in-Time, Best Practice, Zero-Base-Budgeting,..
 
Dieser amerikanische Stil des Vereinfachens fand als 'Auf-den-Punkt-Bringen' universelle Bewunderung. Im Halbjahresrhythmus wurde daher eine quietschende Sau nach der anderen durch das Management-Dorf gejagt. Fast hatte man Mitleid mit diesen, potentiell gar nicht so üblen Konzepten. Man ließ ihnen nicht die Zeit heranzureifen.
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Fazit: Innerhalb einer Generation wurde das Rad der Zeit wurde zurückgedreht - aus einem wissenschaftlichen Fach ist zu großen Teilen wieder eine Sammlung von Rezepten geworden. 
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Reinhard Neumeier, Juni 2010
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1 2 Thomas Sattelberger, Vorstand der Deutschen Telekom in der FAZ vom 23. Mai 2010, S. 46