In die falsche Richtung führt uns im Deutschen die wörtliche Übersetzung von Bio-logie als Lehre vom Leben. Das Wort Lehre verbinden wir mit statischem Kathederwissen: Vom erhöhten Pult des Lehrers wird fertiges Wissen in die Köpfe der Schüler geleitet. Nein, damit verstehen wir von Biologie nichts.

Denn Leben wird vor allem durch Zeitwörter (Tun-Wörter wie es in der Volksschule auf den Punkt gebracht heißt) beschrieben: bewegen, erhalten, agieren, reagieren, reparieren, erholen und ruhen, komplizierter oder einfacher werden, kämpfen und kooperieren, aufnehmen und ausscheiden,... Sprechen wir  besser von leben und nicht vom Leben.  

leben wühlt durch die Erde, kriecht auf Oberflächen, schlängelt, hoppelt und läuft, fliegt in der Luft, schwimmt im kalten oder im kochenden Wasser, ernährt sich von Sauerstoff oder Schwefel. Und das  selten allein. Auch auf unteren biologischen Stufen überwiegt das Geselligsein:

Ob Viren, Bakterien, Einfach- oder Vielfachzeller, zu leben heißt zwar auch ein selbständiges Einzelwesen zu sein, aber es bedeutet vor allem mit anderen Erbinformation und Materie zu tauschen.


Es wird verständlich, dass Biologie als DIE Leitwissenschaft der letzten Jahrzehnte keine einheitliche Theorie entwickelt hat.  Leben ist leben und damit viel zu schlau, zu clever, zu rasch, zu langsam, zu kompliziert, zu einfach, zu umfassend und zu detailliert, um es in ein einziges Schema zu pressen. Die Standardwerkzeuge der Wissenschaften greifen vorerst ins Leere. 

Wir nähern uns dem aktiven Leben besser, wenn wir es klein und  unruhig schreiben:  l e b e n. Wir finden im leben, was in unbelebten Systemen nicht zu vorhanden ist: Lebens-Zyklen, innerer Stoffwechsel, agierend und reagierend auf Umwelteinflüsse, regulierend und sich selbst replizierend. leben evolviert, verändert Form und innere Abläufe.

 

Biologisches Gleichgewicht ist selten durch Homöostase (im Sinne eines stabilen Gleichgewichtes) gekennzeichnet, sondern durch Homöodynamik. Paradoxerweise ergibt sich Stabilität in lebenden Systemen erst aus der Änderungsdynamik in  Auseinandersetzung mit der Umwelt. 

Ein Biologe muss ein naturwissenschaftlicher Zehnkämpfer sein, ein Hans-Dampf-in-allen-Gassen: Er benötigt nicht nur Erkenntnisse seines Faches, sondern auch Wissen über Physik, Chemie, Statistik, Medizin oder Geographie. Wer meint, Sozial-, Kultur- und Geisteswissenschaften habe nicht mit Biologie zu tun, steht mit beiden Füßen tief in der Vergangenheit.

 

sri lanka: fischer bringen auslegerboot zu wasser

Sri Lanka / 2001: Ein großer Fischschwarm war in der Nähe der Küste aufgrund kreisender Vögel entdeckt worden. Fischer bringen nurn rasch ihr Gemeinschaftsboot mit Ausleger zu Wasser. Sie hatten Erfolg.

Biologie ist eine disziplinenüberschreitende Lebenswissenschaft. Aus diesen Übersschreitungen, welche in alle Richtungen weisen, entstehen Wissenschaftsfächer wie Biochemie, Biogeographie, Bioklimatologie, Zellbiologie, Molekularbiologie, Biomechanik, Biophysik oder der Astrobiologie – die Wissenschaft von den Bedingungen, Grenzen und möglichen Inhalten von der Tätigkeit  l e b e n   außerhalb der Erde.

Kein Wunder, dass sich leben nicht an menschliche Begriffe und Einteilungen hält. Dazu ist leben zu lebendig und 'überall drin und dran'. leben heißt

bewegen, agieren, reagieren, erholen und ruhen, zurückziehen, komplizierter oder einfacher werden, kämpfen und kooperieren, reparieren, auf- und abbauen, aufnehmen, ausscheiden, fortpflanzen, sterben, ...

   ... und das alles gegeneinander und miteinander und ineinander und übereinander.

 

Reinhard Neumeier, Mai 2010